Fünfzehn Universitäten wurden geschlossen. Tausende Studierende und Professoren sind ohne Perspektive. Die Hochschulen sind in Gefahr. Die Türkei ist in der Krise.
Text: Arthur Rossier, übersetzt von Melanie Bösiger
Nach dem missglückten Putschversuch im letzten Juli wurden in der Türkei tausende Personen festgenommen. Die Bildungsinstitutionen wurden nicht verschont. Spectrum wollte mehr wissen über das, was die Medien hierzulande als „Säuberung“ bezeichnen. Es geht dabei insbesondere um den Einfluss, den diese auf die Universitäten hat. Aysen Uysal, Spezialistin für Kollektives Handeln und Professorin der Politikwissenschaft an der Universität Dokuz Eylül in Izmir (Türkei), besuchte unlängst die Uni Freiburg. Nach ihrer Konferenz über Demonstrationen in der Türkei hatte Spectrum die Gelegenheit, sie zu treffen.
Als Universitätsprofessorin haben Sie die Entlassungen im Bildungswesen hautnah miterlebt. Wie haben Sie diesen Umsturz wahrgenommen?
In Izmir haben zwei Universitäten nach dem Putschversuch geschlossen. Dutzende Kollegen standen von einem Tag auf den andern ohne Job da. Obwohl das keine offiziellen Informationen sind, ist es doch so, dass diese Akademiker kaum je wieder einen Job finden werden. Und auch die Studierenden sind betroffen. Die Universität, an der ich arbeite, hat einige Studierende der geschlossenen Unis aufgenommen. Aber in der Türkei haben insgesamt fünfzehn Universitäten geschlossen – wir sprechen hier von tausenden Studierenden und Kollegen, deren Zukunft ungewiss ist. Sie suchen nach Perspektiven, zum Teil im Ausland, manche aber auch innerhalb der Türkei. Einige klagen ihr Recht ein, aber das braucht viel Zeit.
Die Rektoren der Universitäten wurden angewiesen, jene Angestellten zu melden, die mutmassliche Sympathisanten von Fethullah Gülen sind. Hatte das Auswirkungen auf Ihr berufliches Umfeld?
Auf die Anhänger Gülens hat sich das zumindest an meiner Universität nicht ausgewirkt. Aber unser Unterricht wird kontrolliert. Polizisten in Zivil sind während der Vorlesungen anwesend, vor allem an den Sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Auch wenn wir die Regierung nicht direkt kritisieren, gibt es oft heikle Diskussionen während der Kurse. Regierungstreue Studierende kooperieren zudem regelmässig mit der Polizei. Sie verraten oftmals die Professoren. Deswegen mussten sich schon verschiedene Kollegen polizeilichen Befragungen unterziehen und wurden anschliessend entlassen.
Viele der Verhaftungen geschehen unter anderem, weil Personen verdächtigt werden, Teil des Netzwerks um Gülen zu sein. Glauben Sie, dass diese Verdachte gerechtfertigt sind, oder sind sie bloss ein Vorwand, um potentielle Gegner loszuwerden?
Das ist eine schwierige Frage. Über das, was beim Putschversuch am 15. Juli 2016 geschehen ist, wissen wir fast nichts. Bis zu diesem Datum glaubte ich nicht daran, dass es in der Türkei Kräfte gibt, die zu so einem Putsch fähig wären. Die Armee war damals schon schwach und die Gemeinschaft um Gülen sehr zurückhaltend. Aber ich persönlich glaube, dass die Regierung profitieren konnte. Sie schaffte es, nach dem Putschversuch ihre Macht zu festigen und ein Regime zu etablieren, das ihr besser passt.
Sie haben die Entwicklung der Sozialwissenschaften in den letzten Jahren mitverfolgt. Welche Hoffnungen haben Sie aktuell?
Es gibt nicht viel Hoffnung. Die Forschung hat in der Türkei keinen hohen Stellenwert, die Regierung braucht sie nicht. Ausserdem wurde in der letzten Notverordnung bestimmt, dass der Staatspräsident die Rektoren der Universitäten ernennen kann. Vorher gab es dazu Wahlen innerhalb der Universität. Im November 2016 hat der Präsident an der Universität von Bosphore Mehmed Özkan als Rektor eingestellt – er hatte nicht an den universitätsinternen Wahlen teilgenommen. Es wäre jedoch die offizielle Kandidatin Gülay Barbarasoglu gewesen, die die internen Wahlen mit 86% der Stimmen gewonnen hatte. Es folgten Proteste an dieser Universität. Darauf drangen zum ersten Mal Polizisten auf einen Campus ein, um die Proteste der Studierenden zu stoppen. Das konnte nur passieren, weil in der Türkei die Polizei nur mit Erlaubnis des Rektors Zutritt zum Uni-Gelände bekommt. In diesem Zusammenhang ist es für die Regierung natürlich sehr praktisch, die Rektoren selbst wählen zu können.
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