Die 2017 geäusserte Kritik des deutschen Allgemeinen Studierendenausschusses am Gedicht „avenidas“ des schweizerisch-bolivianischen Poeten Eugen Gomringer hat in deutschsprachen Medien in den letzten Monateneine Schneise zwischen Kunstfreiheit und Freiheit von Sexismus geschlagen. Der Versuch einer Synthese.
Sexistisch sei das Gedicht, das an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule prangt. Der Vorfall hat eine grosse Debatte über Kunstfreiheit, Interpretation und Sexismus in der Kunst losgetreten. Unabhängig von diesem konkreten Fall, ob das Gedicht nun explizit sexistisch sei, es ein maskulin-stereotypes lyrisches Ich gebe oder eben nicht und ob solch ideologische Deutungen einem Werk der konkreten Poesie wirklich gerecht werden, steht die Diskussion unweigerlich für die Problematik, in die sich auch die sogenannte „Kinderbuchdebatte“ (Worte wie „Neger“ in den Kinderbüchern Lindgrens und Kästners), aber auch die sexistischen Äusserungen des Kunstmalers Georg Baselitz einreihen.
Zwei Achsen
Die grossen Achsen der Debatte lassen sich in zwei Fragen einteilen. Erstens, ob und was für eine Art von Kunstfreiheit es gibt und geben sollte: Werke welcher Art und welchen Inhaltes dürfen Kunstschaffende heute produzieren und veröffentlichen? Welche moralischen oder anderen Kriterien sollen dabei massgebend sein? Zweitens stellt sich die Frage der Institutionalisierung von Kunst: Welche Kunst darf und soll repräsentativ für eine staatliche Öffentlichkeit sein? Inwiefern darf eine staatlich repräsentative Öffentlichkeit, zum Beispiel eine Hochschule, sich mit gewissen Werken schmücken und so symbolisch ihre Botschaft unterschreiben? Ein kurzer Zeitsprung ins neunzehnte Jahrhundert zeigt uns, dass, anders als heute, die Zügel schon im Bereich der „privaten“, nichtstaatlichen Kunstproduktion straffer gehalten wurden. Man denke nur an die beiden Prozesse von 1857, in denen sowohl Gustave Flaubert als auch Charles Baudelaire sich vor Gericht für die reine Veröffentlichung bestimmter Werke (Madame Bovary respektive Les Fleurs du Mal) zu verantworten hatten, angeklagt wegen Verfehlungen gegen die sittliche Ordnung.
Baudelaire und die Académie française
Wenn man sich den Bereich der bildenden Kunst der gleichen Zeit in Frankreich anschaut, so ging es den heute gefeierten Impressionisten in der Malerei ähnlich. Sie hatten sich gegenüber einer staatlich anerkannten und honorierten Kunst zu behaupten, die einer Ästhetik und einer Themenwahl konform der staatlichen Ideologie des Second Empire pinselten. Die Herauslösung der Kunst aus staatlichen Repräsentationsmechanismen erfolgte nur langsam und ist, vor allem in Frankreich, noch heute nicht gänzlich abgeschlossen. Man denke nur an die Académie française, in die, wie als Form staatlicher Anerkennung, Schriftstellerinnen und Schriftsteller (allerdings auch ausländische) ehrenhaft aufgenommen werden. Von dieser Form staatlicher Kunst haben wir uns heutzutage aber, von eben solchen Ausnahmen abgesehen, glücklicherweise entfernt. Wir bewegen uns mittlerweile schon an den Grenzen eines anderen Extrems, das vom Kunstbetrieb fordert, er habe sich einer politischen Sache zu verschreiben, die – links und progressiv – echter Kunst sogar inhärent sei. So behauptet zum Beispiel der französische Soziologie Geoffroy de Lagasnerie in einem Interview mit clique.tv, Kunstschaffende, die sich nicht am linken Rand des politischen Spektrums befunden haben, hätten nie einen bleibenden artistischen Eindruck hinterlassen. Dass Baudelaire Monarchist und Goethe alles ausser Kommunist war, scheint diesem Soziologen-Klischee keinen Abbruch zu tun.
Rückeroberung der Autonomie
Die Kunst droht auch heute wieder für Interessen eingespannt zu werden, die ihrer Essenz fremd sind. Das gilt sowohl für Kunst als politisches Kampfinstrument, als auch für staatlich bejahte Kunst. Doch immer wieder gab es in ihrer Geschichte Momente der Rückeroberung von Autonomie. Eine solche ist vielleicht heute wieder nötig. Und so sollte man möglicherweise gerade wegen und nicht trotz der Kunstfreiheit „avenidas“ von besagter Fassade streichen. Um Kunst nicht als Repräsentationsobjekt verkrusten zu lassen, sondern sie wieder als freien Raum für menschliche Entfaltungsmöglichkeiten zu verstehen.