Anlässlich des Artikels über Kaffee in der aktuellen Ausgabe gab Christina Messerli von der Berner Gesundheit Auskunft zum Thema Sucht. Sie ist Regionalleiterin des Zentrums in Bern und systemische Therapeutin. Im Interview erklärt sie, wie man eine Sucht erkennt und wie Angehörige reagieren können.
Gibt es verschiedene Arten von Sucht?
Generell unterscheiden wir zwischen substanzgebundenen Süchten wie zum Beispiel Alkohol oder Drogen und Verhaltenssüchten wie etwa Glücksspielsucht, Online-Sucht oder Sexsucht. Zwischen den beiden Kategorien gibt es viele Parallelen.
Was deutet auf eine Abhängigkeit hin?
Am Anfang steht der starke Wunsch, eine Substanz zu konsumieren oder ein Verhalten auszuüben. Man bewegt sich weg vom Gewohnheits- hin zum übermässigen Konsum. Das führt dazu, dass man den Konsum oder das Verhalten nur noch vermindert kontrolliert werden kann. Die abhängige Person entwickelt zudem eine gewisse Toleranz. Das bedeutet, dass eine Dosiserhöhung notwendig ist, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Hinzu kommt die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche wie zum Beispiel der Familie oder der Arbeit zu Gunsten des Konsums oder des Verhaltens. Sobald die Dosis dann verringert resp. auf das Verhalten verzichtet wird, empfindet die Person Entzugssymptome.
Was sind typische Entzugssymptome?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. Das Spektrum ist sehr breit. Entzugserscheinungen von Alkohol können zum Beispiel von Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzrasen über Zittern bis zu Epilepsie reichen.
Ist Kaffee- oder Koffeinsucht offiziell anerkannt?
Nein, übermässiger Konsum von Koffein wird aus fachlicher Sicht nicht als Sucht verstanden wie die Abhängigkeit von legalen oder illegalen Substanzen oder Verhaltenssüchte. Koffein ist aber ein sogenanntes Stimulans, eine wahrnehmungsverändernde Substanz. Der Konsum soll einen Zweck erfüllen. Bei Kaffee wäre das zum Beispiel die Verminderung von Müdigkeit. Gerade in Prüfungsphasen steigt bei Studierenden der Konsum stark an. Wenn dieser jedoch nach den Prüfungen wieder reduziert wird, ist das grundsätzlich kein Problem.
Betreuen Sie Fälle von übermässigem Koffeinkonsum?
Ja, das hatten wir auch schon, aber es ist sehr selten. In der Beratung behandeln wir das Thema gleich wie der Umgang mit anderen störenden Gewohnheiten. Wichtig ist auf jeden Fall, dass man sein eigenes Unbehagen ernst nimmt. Wenn ich am Morgen zuerst einen Kaffee brauche, um zu kommunizieren, sollte ich versuchen, weniger davon zu trinken.
Welche Suchtverhalten sind besonders bei jungen Leuten ausgeprägt?
Ganz weit oben ist Cannabis. Es ist die Experimentierdroge schlechthin. Aber auch Alkohol, Partydrogen oder digitale Medien spielen eine wichtige Rolle. Ebenfalls ein grosses Thema ist Kaufsucht, aber wenige Leute kommen deswegen in die Beratung.
Weshalb ist das so?
Zum einen sehen die jungen Leute Kaufsucht oft nicht als Problem an, zum anderen macht das Label Sucht das manchmal unmöglich. Sucht ist negativ konnotiert und noch immer ein Tabu in der Gesellschaft. Das erschwert vielen den Gang zu Beratungsstellen und zu einer Therapie. Dabei ist Sucht eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie steht oft als Symptom für andere Probleme, welche die Person beschäftigen: Oft werden Substanzen als eine Art Medikament gegen Stress, Angst, Depressionen oder schlicht unangenehme Gefühle eingesetzt.
Wie können Angehörige reagieren, die jemandem helfen wollen?
Man sollte die betroffene Person auf jeden Fall darauf ansprechen. Viele Leute sagen nichts und bestätigen so die abhängige Person in ihrer Wahrnehmung, dass niemand etwas bemerkt hat. Natürlich kann es negative Reaktionen hervorrufen, wenn man jemanden auf eine eventuelle Abhängigkeit anspricht. Die Devise lautet aber: Nicht lockerlassen und nach einiger Zeit wieder nachhaken. Das Gegenüber braucht Zeit, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Was sollte man im Gespräch vermeiden?
Auf keinen Fall anklagend sein. Sensibilität und Ehrlichkeit sind sehr wichtig. Man kann den Konsum ansprechen, in dem man sagt: «Mir ist aufgefallen, dass …» oder «Ich mache mir Sorgen, weil …». Angehörige können sich selbstverständlich auch Hilfe bei uns holen. Wir sind genauso für sie da. Jede Suchterkrankung betrifft im Schnitt fünf bis sechs andere Menschen.
Wie kann man mit der Berner Gesundheit in Kontakt treten?
Wir sind per Online-Chat oder auch telefonisch für Erstberatungen erreichbar. Natürlich darf man auch direkt bei uns vorbeikommen.
Über die Berner Gesundheit:
Die Hauptaufgaben der Stiftung sind Gesundheitsförderung, Prävention, Sexualpädagogik sowie Suchtberatung und -therapie.
Mit vier Regionalzentren und zusätzlichen Standorten ist sie im ganzen Kanton Bern vertreten. Ihre Angebote sind sowohl in Deutsch als auch Französisch erhältlich.
Weitere Informationen: www.bernergesundheit.ch