Märchen faszinieren seit Jahrhunderten sowohl Erwachsene als auch Kinder. Aufgrund ihrer Gewaltdarstellungen und stereotypischen Charaktere sind sie heutzutage aber umstritten.
Die Böse Königin in Schneewittchen muss in glühenden Schuhen tanzen, bis sie stirbt. Der Wolf bei den sieben Geisslein ertrinkt durch die Steine in seinem Bauch. Die kannibalistische Hexe will Hänsel und Gretel essen. Die Böse Königin isst Lunge und Leber, die angeblich von Schneewittchen sind. Zudem kocht in einem Märchen der Gebrüder Grimm eine Stiefmutter ihren Stiefsohn. Das sind nur ein paar Beispiele von der Brutalität, die in alten Märchen zu finden ist. Die Geschichten enden trotzdem immer positiv: Die Hexe verbrennt und es gelingt ihr nicht, Hänsel und Gretel zu essen, die Böse Königin isst eigentlich Lunge und Leber eines Wildschweins und der Stiefsohn kehrt nach dem Tod der Stiefmutter von den Toten zurück. Dennoch befassen sich diese angeblichen Kindergeschichten auf brutale Art und Weise mit Gewalt und Kannibalismus, ohne diese Grausamkeiten einzuordnen. Aufgrund solcher Themen ist umstritten, ob Märchen wirklich für Kinderohren geeignet sind. Wie kommt es, dass so viele Märchen so brutal sind?
Unterhaltung für Erwachsene
Ein Grund für die Brutalität in Märchen kann dadurch erklärt werden, dass viele Märchen ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren. Ähnlich, wie sich Leute heutzutage brutale Filme und Serien zur Unterhaltung anschauen, erzählten sich Erwachsene damals Märchen. Ab dem 18. Jahrhundert gab es erste niedergeschriebene Märchensammlungen. Die Gebrüder Grimm veröffentlichten 1812 eine Märchensammlung mit dem Namen «Kinder- und Hausmärchen». Schon vorher gab es Märchensammlungen, die sich an Kinder richteten. Deswegen setzte die Debatte ein, ob Märchen für Kinder angebracht sind.
Brutalität als Erziehungsmittel
Aus psychologischer Sicht dient die Brutalität in Märchen als Mittel zur Kindererziehung. Die Guten setzen Gewalt anders ein als die Bösen. Diese verwenden Gewalt meistens, um an Macht zu gelangen oder um diese zu behalten, beispielsweise die Böse Königin in Schneewittchen. Sie will Schneewittchen umbringen, um die Schönste im ganzen Land zu sein. Die Antagonist:innen setzen in Märchen immer zuerst Gewalt ein, und zwar gegen die unschuldigen Protagonist:innen. Diese setzen ihrerseits zwar auch brutale Mittel ein, aber nur gegen die Bösen und nur, nachdem ihnen schon Leid zugefügt wurde. Die Grausamkeit in Märchen stärkt den Sinn der Moral bei Kindern. Sie lernen, dass gute Taten belohnt und schlechte Taten bestraft werden. Dass die Bösen mit so drastischen Mittlen bestraft werden, soll Kinder davon abschrecken, selbst unmoralisch zu handeln. Die Gewalt ist meistens übertrieben dargestellt und symbolisch zu verstehen. Den Kindern wird gelehrt, dass sie ein schönes Leben führen können, wenn sie lieb und nett sind.
In manchen Märchen ist aber auch nicht so einfach erklärbare Gewalt zu finden. Beispielsweise stirbt Rumpelstilzchen, nachdem jemand seinen Namen kennt, ohne klar bösartig zu sein. Diese Art von Gewalt hat wohl nichts mit moralischen Erziehungsmassnahmen zu tun.
Stereotypen in Märchen
In Märchen sind ausserdem oft Stereotypen zu finden, die heute nicht mehr angebracht sind. Märchenprinzessinnen müssen schön sein und werden vom Prinzen aus brenzligen Situationen gerettet. Prinzessinnen müssen meist heiraten, wenn möglich in eine wohlhabende Familie. Die Hochzeit kommt oft als Rettung aus einer misslichen Lage, zum Beispiel bei Cinderella. Cinderella lebt mit ihrer Stiefmutter und ihren Stiefschwestern zusammen. Diese behandeln sie wie Dreck. Sie muss das Haus putzen und wird von der Aussenwelt isoliert. Durch die Hochzeit mit dem Prinzen entkommt sie endlich dieser schlimmen Situation. Zudem sind Prinzessinnen meist selbstlos, treu, leidensfähig und sie besitzen ein grosses Durchhaltevermögen. Ihre Rolle in der Geschichte ist jedoch oft passiv. Die Prinzen dagegen sind die strahlenden und mutigen Retter in der Not, sie kämpfen aktiv gegen das Böse.
Gut und Böse werden oft überspitzt und vereinfacht dargestellt. Es gibt klare Unterschiede, selbst beim Aussehen. Die Bösen sind hässlich, die Guten sind schön. Cinderella zum Beispiel ist hübsch, lieb und unschuldig, ihre Stiefschwestern sind hässlich und gemein. Auch in Sachen Persönlichkeit sind die Protagonist:innen eindeutig gut, die Antagonist:innen eindeutig schlecht. Oft kriegen die Figuren keine tiefere Persönlichkeit, als dass sie gut oder böse sind. Es wird klar zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterschieden, um die Moral der Geschichte zu verdeutlichen: Das Gute gewinnt immer! Auch die stereotypischen Geschlechterrollen haben erzieherische Aspekte. Sie entsprechen den zur Entstehungszeit der Märchen verbreiteten Geschlechterrollen. Sie sollten den Kindern ihre Position in der Gesellschaft aufzeigen.
Verschönerte Darstellungen in Filmen
Es gibt zahlreiche Filmadaptationen von Märchen. Die Berühmtesten sind wohl die Disney-Verfilmungen. Diese romantisieren die Geschichten zwar, enthalten aber immer noch Gewalt und Stereotypen. Die Bösen werden auch in Disney-Filmen meistens mit dem Tod bestraft. So auch bei neueren Filmen wie «Rapunzel: Neu verföhnt» aus dem Jahr 2010. Dort fällt Mutter Gothel am Ende aus dem Turm und stirbt. Die Brutalität wird in diesen Fällen allerdings stark abgemildert dargestellt. So fällt die Böse Königin in Disneys Schneewittchen am Ende in den Tod, anstatt in glühenden Schuhen bis zum Tod tanzen zu müssen. Anstelle zu ertrinken, erhält die kleine Meerjungfrau im Disneyfilm ein Happy End, und heiratet Prinz Erik. Bei Disney sind die Konflikte eher emotional als auf physische Weise gewaltvoll. Die Stereotypen jedoch sind in Disneyfilmen weiterhin präsent, besonders in älteren Interpretationen. In den klassischen Disney-Filmen übernehmen die weiblichen Charaktere meist die traditionellen Rollen und sie haben die für Märchen typischen Eigenschaften. Bei neueren Filmen hingegen werden die Geschlechterrollen der Zeit angepasst und den Figuren wird mehr Tiefe gegeben.
Neuinterpretationen im modernen Kontext
Märchen sind ein Produkt ihrer Zeit. Von vielen werden sie deswegen heutzutage als nicht mehr zeitgemäss und oft als unangebracht für Kinder angesehen. Deswegen schreiben manche die Märchen um. Sie übertragen die traditionellen Geschichten in den zeitgemässen Kontext. Dabei gibt es verschiedene Arten von Neuerzählungen.
In manchen Geschichten wird das Geschlecht der Protagonist:innen geändert. Anstatt einer Prinzessin, die auf der Erbse liegt, ist es zum Beispiel der Prinz auf der Erbse. Somit will man den Stereotypen in Märchen entgegenwirken. In einer anderen Art von Neuinterpretation erzählt der oder die Bösewicht:in die Geschichte. Das bietet eine neue Perspektive auf das Geschehen und gibt den Antagonist:innen mehr Tiefe. Manche modernen Versionen spielen im 21. Jahrhundert. Beispielsweise der Film «A Cinderella Story» aus dem Jahr 2004 – er spielt an einer US-Amerikanischen High School.
Allgemein sind die Charaktere in modernen Märchenversionen komplexer als in den Originalversionen. Besonders die weiblichen Figuren sind selbstständig und emanzipiert. Romantische Liebe steht bei ihren Geschichten oft nicht mehr im Zentrum. Es gibt Geschichten, in denen die Prinzessin sich selbst rettet und den Prinzen zurücklässt. Im Film «Die Eiskönigin» aus dem Jahr 2013 steht konkret Schwesternliebe im Fokus. Zudem sind die Märchen inklusiver gegenüber verschiedenen Kulturen und sexuellen Orientierungen. Es wird weniger klar zwischen Gut und Böse unterschieden, was die Geschichten komplexer macht. Diese neue Komplexität widerspiegelt eher die echte Welt, denn auch in der Realität verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse.