Während der «male gaze» schon lange out sein sollte, kommt nun ein neuer Begriff in den Diskurs, der ziemlich «in» sein könnte: das «digital other».

Katja Kauer, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, benannte den Begriff in Parallele zur Entwicklung des «male gaze»: Diese ursprünglich «männliche heterosexuelle Perspektive» auf weiblich gelesene Personen wurde in unserer Gesellschaft von den Frauen internalisiert, so dass sie selbst automatisch darüber nachdenken, wie sie in ihrem neuen Outfit oder in ihrem Verhalten auf Männer wirken. Auch wenn sie das vielleicht gar nicht wollen, richten sie sich nach dem imaginierten «patriarchal Other».

Das «digital other» in der Popliteratur

In der Popliteratur erkennt Kauer ein verwandtes Phänomen und zeigt es am Roman «Allegro Pastell» von Leif Randt auf. Darin externalisieren die Hauptpersonen ihren Blick auf sich selbst aus der Sicht von angenommenen Zuschauenden:

«Jerome mochte den Gedanken, dass er sich selbst gegebenenfalls unerträglich finden würde, könnte er sich hier in der U 4 von außen sehen. Einen Gedanken zu mögen, der andere verunsichern würde – das war typisch für den neuen Jerome, der mittlerweile spielerisch unterschied zwischen einer inneren Persönlichkeit, die nur er selbst kennen konnte, und einer äußeren Persönlichkeit, die sich aus Zuschreibungen der Umwelt zusammensetzte.»

(Randt, 2020, 11)

Das eigene Selbstbild konstruieren wir immer auch über unseren Eindruck, wie wir von anderen wahrgenommen werden. «Das Romanzitat jedoch behandelt nicht das Subjektivierungsproblem als solches, also das Angewiesensein auf das Gesehenwerden, sondern die narzisstisch imaginierte Zurschaustellung.» (Kauer, 2024, S.123) Denn in der Szene geht es nicht darum, wie andere Fahrgäste auf das Paar reagieren, sondern Jerome stellt sich diese fremde Wahrnehmung vor. Er sieht sich selbst als ‘selbstvergessener Liebender’ und ist dadurch überhaupt nicht authentisch, sondern wird zum Schauspieler für die imaginierten Zuschauenden.

Diese Art von Selbstobjektivierung gäbe es nach Kauer (2024) zwar schon lange, doch weist sie darauf hin, dass mit den digitalen Medien neue Subjektivierungstechniken entstehen (S.122).

Katja Kauer und Leif Randt während der Lesung im Korso am 27.02.25

 

Mit dem Autor im Gespräch

Ob das eine treffende Beschreibung der Menschen sei, fragte Katja Kauer Leif Randt letzte Woche selbst. Während wir in den gemütlichen Kinosesseln sassen, erklärte er uns, dass er ja nur einige Menschen kenne und erzählte ein bisschen von ihnen. Denn für alle Menschen könne er das nicht bestimmen. Was er dafür besser als alle anderen erklären konnte, war wie es zum Namen «Allegro Pastell» kam. Allegro ist dabei eine Abänderung des ursprünglichen Namens «Artengo», nach der Decathlon Sportmarke, die auch auf Leifs Cap stand. Doch fürs Okay von Decathlon hätten diese den Roman erst prüfen müssen und dafür noch vor der Veröffentlichung eine französische Übersetzung gebraucht. Das wurde zu knapp und so kam «Allegro» ins Spiel. «Pastell» heisst der Roman, weil das die Farben der Geschichte seien; alles ein bisschen verwischter und weicher.

Im Korso finden seit dem letzten Semester die Lesungen des Departement Germanistik statt. In den gemütlichen Kinosesseln hört man sich an, wie die Autoren und Autorinnen aus ihrem neusten Buch vorlesen und Fragen der Moderation und aus dem Publikum beantworten.

«153 Formen des Nichtseins»

Die nächste Lesung findet diesen Mittwoch, 12. März statt. Slata Roschal liest aus ihrem Roman «153 Formen des Nichtseins». Der Text behandelt damit ein hochaktuelles Thema: Wie fühlt man sich, wenn man ganz widersprüchliche Rollen in sich vereinigt? Ich bin schon sehr gespannt, was Slata uns über ihren Roman und dessen Entstehung erzählen wird.

 

 

Text Joana Bösch

Foto Mariam Shubladze


Alle Infos zu den Lesungen:

Flyer Lesungen FS 2025

Instagramm

Korso Kino

 

Literatur

Kauer, Katja. (2024). The Digital Other als selbstobjektivierende Erzählinstanz in der Popliteratur. In S. Catani & C. Kleinschmidt (Hrsg.), Soziale Medien und Gegenwartsliteratur (S. 121–132). De Gruyter. https://doi.org/doi:10.1515/9783110795424-009

Randt, Leif. Allegro Pastell. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2020.

Roschal, Slata. 153 Formen des Nichtseins. München: Penguin, 2024.