Können Filme dazu beitragen, die tiefen Narben eines 26 Jahre andauernden Bürgerkriegs (1983-2009) zu heilen? Können sie den Dialog zwischen der singhalesischen und der tamilischen Gemeinschaft fördern? Das FIFF stellt sich in diesem Jahr diese Fragen und glaubt an die transformative Kraft des Films. Die Sektion «Neues Territorium: Sri Lanka» präsentiert Werke, die in unseren Breitengraden noch weitgehend unbekannt sind. Nebst mehreren Langfilmen präsentiert das FIFF im «Programme: Courts sri-lankais» nacheinander vier Kurzfilme, die sich mit den Herausforderungen der singhalesischen und tamilischen Bevölkerungsgruppen in und ausserhalb Sri Lankas beschäftigen.

 

Le Gap

Der 15-minütige Kurzfilm Le Gap von Keerthigan Sivakumar stellt eine tamilisch sprechende Frau in den Vordergrund, welche von ihren Eltern zu einer Hochzeit gedrängt wird. Sie ist sich noch sehr unsicher, ob sie dieser Ehe zustimmen möchte, doch am Telefon drängt ihre Familie sie zu einer endgültigen Antwort. In dem Zug, in welchem sie sitzt, beschwert sich ein Passagier darüber, dass sie am Telefon zu laut sei. Kurzerhand wechselt sie das Zugabteil, an einer feiernden Fasnachtsgruppe vorbei, kehrt jedoch schon bald zurück. Der genervte Passagier setzt sich ihr provokant gegenüber und starrt sie so lange an, bis sie die Eltern mit einer Zusage endlich abwimmeln kann. Angespannt und überwältigt beobachtet sie zwei Kinder im selben Abteil, die mit klapperndem Spielzeug hantieren, bis es hinunterfällt. Der zuvor noch provozierte Passagier reagiert darauf nicht, doch die Protagonistin hebt das Spielzeug auf und weist die Familie der Kinder darauf hin, dass sie doch auch leiser sein sollen. Als sie feststellt, dass sie ihre Stimmung nun auf unschuldige Kinder übertragen hat, möchte sie die Kinder aufheitern und mit ihnen spielen. In einer eindrucksvollen Choreografie tanzt die Protagonistin durch den Zug, bunte Lichter flackern und sie lässt alle Anspannung aus sich heraus. Bevor sie den Zug an ihrer Haltestelle verlässt, entschuldigt sich der Passagier, doch sie geht nicht auf seine Entschuldigung ein. Stattdessen steigt sie aus und trifft auf eine Kollegin, die sie herzlich empfängt.

Le Gap gibt eine Alltagssituation wieder, in der verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und in der auch unterschiedliche Erwartungshaltungen, direkt oder indirekt, kommuniziert werden. Die Protagonistin antwortet dem Passagier in fliessendem Französisch und weiss um die Gepflogenheiten in der Kultur, in der sie sich bewegt. Gleichzeitig hat der Passagier kein Verständnis für ihr Dilemma, geschweige denn versteht er, worüber gesprochen wird und weshalb sie das Telefonat nicht schneller abbrechen konnte. Nur ihr gegenüber lässt er seine Frustration aus, was auch auf eine gewisse Abneigung gegenüber der Fremdheit zum Ausdruck bringt.

Dieser Kurzfilm ist kinematographisch sehr gut umgesetzt. Die Szenen fokussieren sich lange auf die Personen und ihre Mimik und Gestiken. Ein komisches Element ist die Inklusion der musizierenden Kostümierten im angrenzenden Zugabteil, durch welche sich die Protagonistin kämpfen muss. Insbesondere die Tanzeinlage der Protagonistin sticht durch die Farbgebung, den Schnitt zwischen verschiedenen Perspektiven sowie durch den Kontrast zwischen der umherschwingenden Hauptfigur und den nahezu regungslosen Nebenfiguren im Hintergrund hervor.

Crisis

Der von Soban Velrajah produzierte Kurzfilm Crisis ist ein ruhiger Film über den Protagonisten Tamil, der inmitten der Korruption und der politischen Krise lebt. Benzinpreise und Lebenskosten steigen an, es kommt zu Aufständen und Strassenblockaden, unzählige Menschen sterben. Die Kriminalität verschlimmert sich drastisch. Auch Tamil wird von jemandem angeheuert, einen Menschen zu töten. Mit einer Pistole erschiesst er einen gewalttätigen, misogynen Mann, der seiner Frau droht. Die Szene wird jedoch nur angedeutet, es ergibt sich also kein klares Bild.

Die zweite Hälfte des Filmes beginnt damit, dass Tamil mit seiner Familie zu Abend isst und er seine Töchter füttert. Als sie fertiggegessen haben, setzt er sich mit seiner Frau nach draussen in den Garten und versucht ihr zu gestehen, was er getan hat. Dazu fehlen ihm die richtigen Worte. Seine Frau ist schockiert und möchte die Hintergründe erfahren – und vor allem, weshalb er sie in solche Schwierigkeiten bringt. Tamil möchte dem Gefängnis entgehen und vertraut ihr an, dass er gerne mit dem Boot nach Australien fliehen möchte. Sie solle ihm doch bitte drei Jahre geben und dann käme er wieder.

Der Film ist um einiges ruhiger als die anderen drei Filme in diesem Programm und weist sehr langsame Schnittwechsel auf. Die Farbintensität ist etwas weniger gesättigt und geprägt von einer körnigen Auflösung, was dem Film auch ein gewisses Flair verleiht. Vieles davon steht im Kontrast zu den Einstellungen, die wir heutzutage durch hochauflösende Kameras und auch durch die westliche Filmwelt gewohnt sind. Es wird viel Sorgfalt auf diejenigen Szenen gelegt, in denen der Bezug zur Natur hergestellt wird. So liegt der Protagonist ganz zu Beginn in einem trockenen Feld, gleich darauf schwimmt er in einem See. Eine spätere Szene zeigt ihn auf einem Friedhof, der mit langen Gräsern geschmückt ist. In diesem Zusammenhang stellt er sich zudem vor ein Grab mit einem grossen Grabstein, auf welchem viele Namen eingraviert sind. Die Komposition dieses Bildes ist äusserst schön, denn die Hauptfigur Tamil bildet den Vordergrund, die mittlere Ebene ist der graue Grabstein und das Grün der Pflanzen, im Hintergrund ragt eine grosse Tempelanlage aus weissem Stein und satten gelb-goldenen Dächern hervor. Somit ist die volle Fläche ausgeschöpft und durch vielerlei Formen, Farben und Motiven bereichert. Es ist einerseits ein grandioses Sinnbild für die sri-lankische Kultur und andererseits für die traurige Lebensrealität während dieser Konflikte.

Island Story

Mit 14 Minuten ist Island Story zwar der kürzeste unter den in diesem Programm präsentierten Filmen, jedoch hat er wohl die dichteste Fülle an Ereignissen. Island Story erzählt die Geschichte der Verdrängung und Zwangsumsiedlung der Tamil-Population der Provinzen im Norden und Osten Sri Lankas. Dargestellt als Kontrast zwischen Tiervölkern und Gemüsevölkern, gibt dieser Animationsfilm den von den Singhales:innen vertriebenen Tamil:innen eine Stimme.

Eine tamilische Familie, die in einer zentraleren Provinz in Sri Lanka lebt, besteht aus der Mutter und zwei Schwestern. Die ältere Schwester verbringt die meiste Zeit damit, Bücher zu lesen und ihrer kleinen Schwester Mut zu machen, dass sie gerade aufgrund der mangelnden Geschichten über ihr Volk selbst Geschichte schreiben müssen. Ihre Mutter jedoch findet, dass sie viel lieber im Haushalt helfen und nicht so viel in Büchern schwelgen soll.

Eines Tages soll die Familie und ihr Umfeld schlagartig die Heimat verlassen. Während die anderen sich mit Lebensmitteln eindecken, kann die grosse Schwester nur schlecht von ihrer Büchersammlung Abschied nehmen. Sie machen sich auf einen langen und beschwerlichen Fussweg, auf dem vor Erschöpfung und Leid viele Gemüsefiguren am Ende ihrer Kräfte zu Boden sinken. Auch die Nahrungsrationen gehen der Familie aus, sodass die Mutter ihr Kind auffordert, das Essen aus seinem Rucksack zu nehmen und zu teilen. Doch die gesamte Tasche war mit Büchern vollgestopft. Es entbrennt ein Streit, die Mutter wirft die Bücher ins Meer. Traurig fischt die Tochter ihre Bücher aus dem Wasser und trabt weiter hinten in der Schlange hinterher. Plötzlich wird vor ihren Augen etwas in die Luft gesprengt. Fahrzeuge eilen herbei und bringen die Vertriebenen in Flüchtlingscamps. Dabei wird die Familie auseinandergerissen: die Mutter und die kleine Schwester kommen in das Camp C, die Protagonistin in Camp H. Die Lebensbedingungen in diesen Camps sind unmenschlich: Es gibt nur wenig Verpflegung und trotz zahlreicher Kleidungsspenden für die Geflüchteten werden sie ihnen erst dann zur Verfügung gestellt, als sie bereits schmutzig und von Schlamm durchtränkt sind. Einzig und allein Camp A hat eine hohe Qualität: es gibt Bildungseinrichtungen und Spielplätze für die Kinder und hervorragendes Essen. Dies dient aber nur dazu, internationale Reporter:innen davon zu überzeugen, dass es angeblich in allen Unterkünften so human zuginge. Eine reine Fassade.

Als die Protagonistin den Rest ihrer Familie sehr lange nicht finden kann, schliesst sie einen Pakt mit einem Nahrungslieferanten, der in verschiedene Camps fährt, doch auch auf diesem Wege findet sie ihre Angehörigen nicht. Währenddessen fällt der Beschluss, dass die Vertriebenen wieder in ihre Heimat zurückkehren sollen. Mehrere Busse versammeln sich und nehmen die Vertriebenen auf. Im allerletzten Moment findet die Hauptfigur ihre Familie, sie sprintet dem losfahrenden Bus hinterher und ruft und schreit. Als das Fahrzeug zum Stehen kommt, fällt sich die Familie in die Arme. Alle umstehenden Journalist:innen halten diesen Moment fest, schiessen Fotos für die Zeitungen und berichten, dass Familien nun wieder zusammengeführt werden. In den Medien heisst es von da an, dass die Tamil:innen in den Nord- und Ostprovinzen wieder ihre Heimat bewohnen dürfen, doch noch immer gibt es keine Geschichte über diejenigen in den zentralen Provinzen.

Island Story ist ein herzzerreissender Film für alle Altersgruppen, der simpel und gleichzeitig beeindruckend tiefgründig diesen Aspekt des Bürgerkrieges in Sri Lanka veranschaulicht. Die unabhängige, autodidaktische Filmmacherin Bavaneedha Loganathan hat eine grossartige, lebensnahe Geschichte kreiert, in die man sich als Zuschauer:in gut hineinversetzen kann. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Darstellung marginalisierter Stimmen in Filmen. Dieser Film zeigt vor allem die Hilflosigkeit und auch den Mut und das Bewusstsein für das eigene Volk, die uns motivieren kann, uns für die Gemeinschaft einzusetzen und das Erlebte nicht vergessen zu lassen.

Anushan

Zuletzt trat der Kurzfilm Anushan auf die Leinwand. Der in Frankreich produzierte Film von Vibirson Gnanatheepan visualisiert in 23 Minuten, wie der unbekannte Onkel von Anushan wie aus dem Nichts auftaucht und in Frankreich Fuss fassen möchte. Anushans Eltern hatten ihn nicht darüber in Kenntnis gesetzt und er selbst hat diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Kein Wunder also, dass er skeptisch und nur unter starkem Widerwillen sein Zimmer mit dem Fremden teilt. Als Jugendlicher hat Anushan andere Dinge im Kopf – er hat keinen innigen Bezug zu seiner Herkunft und widmet sich lieber seinen Interessen. Mit seinem Freund zusammen möchte er Rapper werden und Texte schreiben. Als dieser Freund über die auf dem Schreibtisch liegenden Dokumente des Onkels stösst, macht er sich einen Spass daraus, über die Informationen in diesem Text zu rappen. Was genau diese Berichte bedeuten, können sie jedoch nicht nachvollziehen. Was bedeutet denn überhaupt «Emaskulation»?

Anushan wird von seiner Familie dazu aufgefordert, mehr Aufgaben zu übernehmen, dem Onkel zu helfen und ihn zu Terminen zu begleiten, da dieser kein Französisch versteht. Anushan will sich dagegen wehren und zerknüllt aus Wut das Ausweispapier. Etwas später beginnt er jedoch zu googlen, was genau «Emaskulation» bedeutet. Dabei gerät er in einen nicht enden wollenden Recherchestrom und lernt erstmals, was Menschen wie seinem Onkel während des Krieges angetan wurde. Beim Anblick misshandelter Körper fasst er den Entschluss, das zuvor beschädigte Ausweispapier zu kopieren und die Kopie den restlichen Dokumenten beizulegen. Am selben Abend sieht er die tiefen Narben auf dem Rücken seines Onkels.

Das Amt erkennt die Kopie nicht an und fordert bei einem Verlust einen Ersatz an. Ab sofort ist die Familie damit beschäftigt, dieses Problem zu beheben. In dieser Zeit kommen sich Anushan und sein Onkel näher und öffnen sich einander. Anushan nimmt seinen Mut zusammen und fragt ihn nach seinen Erfahrungen während des Krieges. Offen und ohne Anushans Fragen ausweichen zu wollen, geht der Onkel darauf ein.

Aufgebracht finden Anushans Eltern das zerknitterte und eingerissene Papier. Sein Vater schreit ihn an, bis Anushan ihm vorwirft, selbst nie über den Krieg zu sprechen, denn er habe schlussendlich keine Ahnung, was Menschen dort durchleben mussten. Dies scheint den Vater nachdenklich zu stimmen.

Durch das neugewonnene Wissen über die schrecklichen Kriegsjahre und die persönlichen Schilderungen seines Onkels entwickelt Anushan ein Bewusstsein für die Sorgen und das Leid der sri-lankischen Bevölkerung. Seine Herkunft scheint ihm mehr zu bedeuten. Am Ende des Filmes lässt sich erahnen, dass all dies ihn dazu inspiriert, seinen kulturellen Hintergrund mit seiner Leidenschaft, dem Rap, zu kombinieren.

Anushan ist ein krönender Abschluss dieses Kurzfilmprogramms. Das Publikum verlässt den Saal mit einem emanzipierten Gefühl, genau wie der junge Protagonist, der nun endlich Zugang zu seiner Kultur und Geschichte gefunden zu haben scheint. Der Film zeigt grandios die Sicht eines Jugendlichen, der erst trotzig auf die Forderungen reagiert und allmählig erst den Sinn dahinter versteht. Für ihn ist diese Begegnung ein Wendepunkt in seinem Leben.

Diese Kurzfilme eröffnen nicht nur neue Perspektiven auf Sri Lanka, sondern zeigen zugleich, wie das Kino Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Kulturen und Gemeinschaften schlagen kann. Sie erzählen von Schmerz und Hoffnung, von Erinnerung und Neubeginn – und machen deutlich, dass Film weit mehr ist als nur Unterhaltung: Er ist ein Mittel des Dialogs, der Reflexion und der Verständigung.

 

Text Helene-Shirley Ermel

Fotos Bilder aus den jeweiligen Filmen, Festival International du Film de Fribourg