Die meisten von uns sind vertraut mit den berühmtesten Märchen Mitteleuropas – doch unzählige weitere unbekannte Sagen warten auf uns.

Rapunzel, der gestiefelte Kater oder die Schöne und das Biest – aus diesen Geschichten besteht meist unser gedanklicher Kanon, wenn wir das Wort «Märchen» hören. Am liebsten im Zusammenhang mit Kinderfilmen oder Bilderbüchern, die uns in zauberhafte Welten mitnehmen. Nicht nur die bekannten Märchen können uns verzaubern, auch andere Kulturkreise bieten sagenhafte Geschichten.

Unbekannte Märchen aus Mitteleuropa

Die Sorb:innen und Wend:innen sind ein westslawisches Volk, das in Deutschland als nationale Minderheit anerkannt ist. Obwohl sie im Osten Deutschlands, genauer der Ober- und Niederlausitz, angesiedelt sind, ist die sorbische Mythologie recht unbekannt. Besonders im Spreewald finden wir bis heute Hinweise auf die lokalen Erzählungen. Prominent tritt der Schlangenkönig «Wužowy Kral» hervor: Die Sage vom Schlangenkönig erzählt von einem habgierigen Grafen, der die wertvolle Krone des Schlangenkönigs stehlen will, indem er ihn in einem abgelegenen Wald beobachtet und die Krone während dessen Abwesenheit stiehlt. Der Graf wird für seine Tat reich und lässt sich ein Schloss bauen, dessen Wappen eine gekrönte Schlange zeigt, die heute als Glückssymbol an vielen Häuserdächern zu finden ist.

Eine andere Sagenfigur ist die Mittagsfrau, auch als «pśezpołdnica» bekannt. Wer zwischen zwölf und dreizehn Uhr draussen auf den Feldern arbeitet, wird von der Mittagsfrau getötet.

Verlassen wir das westslawische Volk und begeben uns auf einen Exkurs zu einem unbekannten Märchen der Gebrüder Grimm. Es trägt den Titel «Vom Mäuschen, dem Vögelchen und der Bratwurst». Diese drei Figuren leben gemeinsam in einem Haus und teilen sich den Haushalt gerecht auf. Ihnen wird jedoch die Eintönigkeit ihrer Arbeiten zuwider und sie beschliessen, die Aufgaben neu zu verteilen: die Maus sollte kochen, der Vogel Wasser holen und die Bratwurst im Wald Holz sammeln. Durch eine Reihe unglücklicher Begebenheiten scheitern alle bei ihren Vorhaben und finden den Tod.

 

Baltische Sagen

Zwei bekannte Sagenerzählungen aus dem eher unscheinbaren Litauen sind «Eglė žalčių karalienė» (Eglė, die Königin der Schlangen) und «Jūratė ir Kastytis». Das Märchen von der Natternkönigin Eglė ist eines der bekanntesten des Landes. Eglė findet nach dem Baden eine sprechende Schlange bei ihren Kleidern, die sie zur Hochzeit zwingt. Nach mehreren Belagerungen und Drohungen willigen ihre Eltern ein. Die Schlange, in Menschengestalt Žilvinas genannt, heiratet sie, und das Paar bekommt gemeinsam vier Kinder. Als Eglė ihre Eltern besuchen will, muss sie drei Aufgaben erfüllen, um Žilvinas‘ Einwände zu überwinden. Mit den Kindern bei den Eltern angekommen, möchten diese Žilvinas töten. So beschwören sie ihn herauf und töten ihn. Vor lauter Trauer verwandeln sich Eglė und die Kinder in Bäume.

Die Göttin Jūratė, Herrscherin der Ostsee, lebt in einem prächtigen Bernsteinschloss. Als der Fischer Kastytis den Meeresfrieden stört, will sie ihn bestrafen, verliebt sich aber in ihn. Ihre Liebe erzürnt den Donnergott Perkūnas, der das Schloss zerstört und Jūratė an die Ruinen kettet. Die an die Strände der Ostsee gespülten Bernsteinstücke sollen die Trümmer der Schlossruine oder Jūratės Tränen sein.

Das weitentfernte Malaysia

Die Geschichte rund um die wunderschöne «Mahsuri» ist eine regionale Legende im Nordwesten von Malaysia. Nachdem sie einen Krieger heiratet und während dessen Kriegszeit allein zurückbleibt, schliesst sie Freundschaft mit einem Reisenden. Aufgrund ihrer Schönheit ist die Frau des Dorfoberhauptes eifersüchtig auf Mahsuri und verbreitet das Gerücht, Mahsuri begehe Ehebruch. Sie aber besteht auf ihre Unschuld. Als sie an einen Baum gebunden und erstochen wird, fliesst aus ihrem Leib weisses Blut, welches ihre Unschuld symbolisiert. Mit ihrem letzten Atemzug verflucht Mahsuri die Insel und prophezeit, sieben Generationen voller Unglück werden Langkawi heimsuchen. Tatsächlich wird daraufhin die Insel im späten 18. Jahrhundert mehrmals von siamesischen Truppen attackiert, jahrzehntelang fallen die Ernten spärlich aus.

Die Vielfalt dieser Legenden zeigt, wie tief verwurzelt Märchen in den Kulturen der Welt sind. Jede Sage erzählt mehr als eine Geschichte – sie bewahrt die Seele einer Kultur.

 

Text und Illustration Helene-Shirley Ermel