In der Schweiz ist die Sesshaftigkeit die Norm. Wie verhält es sich mit der rechtlichen Lage der Fahrenden?
Text: Lucie Besson/ Übersetzt von Mirjam Schmitz/ Illustration: Kalinka Janowski
Vor neunzig Jahre lancierte Pro Juventute das Projekt Kinder der Landstrasse mit dem Ziel, die Gemeinschaft der Fahrenden in der Schweiz aufzulösen. Um dieses Ziel zu erreichen, entriss das „Hilfswerk“ die Kinder ihren Familien. Und zwar unter dem Vorwand, innerhalb ihrer Familien würden sie vernachlässigt. Insgesamt wurden rund 600 Kinder in Heimen oder Familien untergebracht. Dies geschah oft ohne viele Abklärungen. In einer Zeit, in der der Nationalsozialismus in Europa seinen Aufstieg erlebte, erschien ein solches Hilfswerk durchaus wohltätig. Und Pro Juventute erhielt problemlos finanzielle Unterstützung vom Bund, von den Kantonen oder von Privatpersonen. Erst als 1972 ein Artikel im Beobachter enthüllte, wie viele dieser Kinder misshandelt wurden, löste Pro Juventute das Hilfswerk auf. Seither sind mehr als vierzig Jahre vergangen. Wie steht es heute um die Rechte der Fahrenden in der Schweiz?
Wenig Platz in der Schweizer Geschichte
In der Schweiz gibt es eine Gemeinschaft der Fahrenden, sie setzt sich zusammen aus Jenischen, Sinti und Roma. Obwohl diese nationale Minderheit seit dem Mittelalter in der Schweiz lebt, wird sie in Geschichtsbüchern äusserst selten erwähnt. Dabei gehören ihr insgesamt 35’000 Personen an, 5000 von ihnen sind Fahrende ohne festen Wohnsitz. Das mag wenig sein im Vergleich mit der Schweizer Gesamtbevölkerung von acht Millionen Menschen. Aber heute wird anerkannt, dass der Schutz von Minderheiten ein wichtiger Pfeiler des Friedens in einem Land ist. Erst kürzlich hat der Nationalrat darüber diskutiert, ein Denkmal für die Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse zu errichten. Ein Denkmal wäre ein Schritt in Richtung Anerkennung dieser Minderheit, die noch heute diskriminiert wird.
Minderheitenschutz im Schweizer Gesetz
Aus rechtlicher Perspektive sind Fahrende seit 1998 als nationale Minderheit anerkannt. Im selben Jahr hat der Bund die Europäische Konvention zum Schutz der Minderheiten angenommen. Diese Konvention ist ein Anhang an den Schutz der Menschenrechte und der grundsätzlichen Freiheiten. Fahrende haben damit die Möglichkeit, gegen Schweizer Amtsgewalten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gerichtlich vorzugehen. Ausser dieser Konvention hat der Bund keine spezifischen Gesetze für die Fahrenden erlassen. Artikel 8 der Bundesverfassung verbietet jede Form der Diskriminierung, und ganz besonders der Diskriminierung aufgrund der Lebensweise. Von Gesetzes wegen dürfen Fahrende also nicht benachteiligt werden. Dennoch werden sie sehr häufig Opfer von Rassismus. Ein aktuelles Beispiel ist ein offener Brief des Berner Grossrats Nathan Güntensperger im Bieler Tagblatt, in dem er sich negativ über seine Erfahrungen mit Roma äussert. Güntensperger wurde anschliessend wegen Verletzung der Rassismus-Strafnorm angeklagt. Die täglichen Herausforderungen für Fahrende in der Schweiz bleiben die Berufsfindung, Zugang zu Bildung oder einen Stellplatz finden.
Suche nach Lösungen
Die Schweizer Politik ist verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit die Fahrenden gleichzeitig ihre Kultur leben und sich in die Schweizer Gesellschaft integrieren können. Aber das bleibt häufig Theorie. Es gibt zum Beispiel nur wenige praktische Massnahmen, was die Einschulung der Kinder betrifft. Die meisten jenischen Familien sind Halb-Nomaden. In den Wintermonaten leben sie am selben Ort und reisen nur im Sommer herum. Man könnte sich als Lösung vorstellen, dass die Kinder zwischen Oktober und April eine Schulklasse besuchen und während des Sommers Fernunterricht erhalten. Unabdingbare Massnahmen, um Akzeptanz für die Minderheit zu schaffen, sind, die Gemeinschaft der Fahrenden mit speziellen Gesetzen schützen, ihnen zeigen, dass sie Rechte haben, und dem Rest der Bevölkerung diese Gemeinschaft bekanntmachen.