In Freiburg sitzen so viele Muslim*innen wie Christ*innen in Haft. Welche Rolle spielt neben der christlichen eigentlich die muslimische Seelsorge im Gefängnis?

 

42.2% der Gefangenen in den Anstalten von Bellechasse im Kanton Freiburg sind muslimisch, 47.4% christlich. Dennoch ist die Anzahl muslimischer Seelsorger*innen in Gefängnissen verschwindend klein. Die Interpretation der Zahl von Muslim*innen im Gefängnis kann der Nummer eine falsche Bedeutung beimessen. «Es gibt die Tendenz, diese Zahlen so zu lesen, als ob der Islam an sich kriminogen ist», meint Dr. Mallory Schneuwly Purdie vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG). «Damit sieht es so aus, als ob die Personen im Gefängnis wären, weil sie muslimisch sind», sagt sie. Denn obwohl das Land, laut Schneuwly Purdie, den Ruf eines «El Dorados» geniesst, ist es schwierig, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Ohne die entsprechenden Papiere ist es für Migrierende jedoch unmöglich, in der Schweiz ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Rechtslage zwingt viele von ihnen in die Parallelwirtschaft und dadurch ins Gefängnis. Unter ihnen befinden sich auch viele Muslim*innen. Denn zurzeit sind es mehrere muslimische Länder, deren Bevölkerung aufgrund von instabilen Regierungen und Wirtschaftssystemen emigrieren muss.  Dabei sind viele der inhaftierten Muslim*innen nicht praktizierend. Sie sind so muslimisch wie viele Schweizer*innen christlich: aufgrund ihrer Herkunft. Doch wie ergeht es den Gefangenen, bei denen der Glaube eine zentrale Rolle im Leben spielt?

 

Das Gewicht des Glaubens im Gefängnis

Bei Eintritt ins Gefängnis wird eine Person von der Institution «de-personalisiert». Vieles, was ihre Identität ausmacht, wird ihr genommen. Aus ihr wird eine Nummer, ein Nachname. «Im Gefängnis bist du kein Vater, keine Mutter mehr, kein Fussballcoach oder Hockeyfan», sagt Schneuwly Purdie. Neben einem 15 Kilogramm Paket mit Schuhen und Sportkleidern lässt sich der Glaube an Gott leichter mitnehmen. Die Religion wiegt nichts. Im Gefängnis beginnt ein Prozess der Rekonstruktion der Identität. Der Glaube kann diese unterstützen, hilft, einen Sinn im Dasein zu finden. Das Gefängnis hat einen intensivierenden Effekt auf das Praktizieren der Muslim*innen. Gefangene haben Zeit, das Angebot ist da. Einzig ein Kreuzchen muss auf ein Papier gesetzt werden, um am Freitagsgebet teilzunehmen. Sie werden hingeführt und wieder abgeholt. Der Glaube gibt Rechte, sodass je nach Interpretation auch während dem Ramadan im Gefängnis gewisse Dinge wie Änderungen der Mahlzeiten erlaubt sein könnten. Kurzum: Der Glaube ermöglicht, in einem Umfeld zu verhandeln, indem sonst kaum eine Form der Selbstbestimmung möglich ist.

 

«Im Gefängnis bist du kein Vater, keine Mutter mehr, kein Fussballcoach oder Hockeyfan.»

 

Die Rolle der Seelsorge

Das Gefängnis ist für viele Menschen eine Grenzerfahrung, die ihre Identität in Frage stellt. Institutionen wollen verhindern, dass Muslim*innen in diesem Moment eine islamistische Radikalisierung erleben. Im Kontext der Möglichkeit einer Radikalisierung im Gefängnis ist jedoch wichtig zu wissen, dass es meist nicht die immigrierten Ausländer*innen sind, die sich radikalisieren. Oft sind es konvertierte Schweizer*innen und Muslim*innen der zweiten oder dritten Generation, die Kontakt zu radikalen Gruppierungen haben, wobei es in der Schweiz aktuell nur eine Handvoll solcher Fälle gibt. Das Gefängnis unterscheidet bei der Prävention von Radikalisierung zwischen unterschiedlich religiösen Personentypen. So gibt es Personen ohne radikale Gedanken oder Bezug dazu, während andere bereits vor ihrer Inhaftierung eine radikale Denkweise besassen. Dieses fundamentalistische Gedankengut kommt beispielswiese aus dem salafistischen Milieu. Zuletzt gibt es jene Personen, die man islamistische Terrorist*innen nennt. Sie sind Attentäter*innen, welche in der Schweiz sehr selten sind, oder Personen, die, wie oben erwähnt, Kontakt mit Organisationen wie der Al-Qaida hatten oder diese finanziert haben, und nun dafür in Haft sitzen. Bei der Prävention der Radikalisierung stehen vor allem die Personen im Fokus, die bisher keinen Bezug zu radikalen Elementen hatten. Viele Neuzugänge im Gefängnis sind äusserst fragil. Die Rekonstruktion der Identität mit dem Glauben beginnt mit Fragen wie «Was sage ich in einem Gebet?», «Wie wasche ich mich richtig vor dem Gebet?». Wird nun eine Person aus der dritten Kategorie zur Ansprechperson und Autorität in diesem Bereich, kann eine radikale Form des Glaubens in die Identitätskonstruktion einfliessen. Es ist daher von grosser Hilfe, wenn ein Gefängnis stattdessen eine*n  Seelsorger*in als Ansprechperson vorweisen kann  . Damit das möglich ist, muss die Seelsorge jedoch verfügbar und zugänglich sein. Diese Verfügbarkeit scheitert oft am Misstrauen des Gefängnisses gegenüber der muslimischen Seelsorge und dem fehlenden Professionalisierungsgrad der Seelsorger*in selbst.

 

 

Essenziell: Vertrauen von Seite der Institution und Professionalisierung der Seelsorge

Nach Schneuwly Purdie ist zurzeit nur in einem Schweizer Gefängnis ein muslimischer Seelsorger zu hundert Prozent angestellt. In anderen sind es oft Ehrenamtliche, die vor allem für das Freitagsgebet in die Gefängnisse kommen. Da sie keinen Arbeitsvertrag haben und oftmals nicht bezahlt werden, kommt es vor, dass diese freiwilligen muslimischen Betreuer (die grosse Mehrheit ist männlich) aus beruflichen oder persönlichen Gründen nicht am vereinbarten Tag im Gefängnis erscheinen. Da ihre Aufgaben nicht klar sind, informieren sie manchmal das Gefängnis nicht über ihre Abwesenheit. Damit stehen die Gefangenen am Freitagmorgen im Gebetssaal und niemand ist da.

 

Schneuwly Purdie betont, wie wichtig das Vertrauen der Institution des Gefängnisses in die Seelsorgenden ist. Viele der Gefängnisse haben Angst, dass ein Imam die Insassen radikalisieren könnte. Dieses Vertrauen ist jedoch, angesichts des tiefen Niveaus der Professionalisierung der Seesorgenden, auch schwierig aufzubauen. Die meisten Ehrenamtlichen hätten keine zertifizierte theologische Ausbildung und wenig Ahnung von Seelsorge. Bei Institutionen, die schon zwanzig Jahre mit einem muslimischen Seelsorger zusammenarbeiten, hat sich aber gezeigt: Die muslimische Seelsorge ist ein klares Plus. Ein solcher Seelsorger kennt die Insassen. Er spürt, wenn die hyper-instabile Gefängnisstimmung kippt. Auch ist der Seelsorger eine Ansprechperson für die anderen Gefängnisangestellten. Er kann Beobachtungen einordnen und weiss Rat, wenn sich ein Insasse einen Bart wachsen lässt, oder sich weigert, einer Frau die Hand zu schütteln.

 

Die Seelsorge muss eine Partnerin der Institution sein, muss für grosse Fragen der Insassen verfügbar sein: «Wieso bin ich hier?», «Wer will ich sein?», «Was mache ich, wenn ich hier rauskomme?» Sie muss die Regeln des Gefängnisses kennen, muss wissen, wie wichtig die eigene Pünktlichkeit im Gefängnis ist, weil sich gewisse Insassen in den Gängen nicht sehen dürfen und darf fundamentalistischer Hetze keinen Platz bieten. Für viele Gefangene in Schweizer Gefängnissen bietet der Islam Trost, Selbstbestimmung und Kraft. Dafür braucht es ausgebildete Seelsorger*innen. Es reicht nicht, wenn der Seelsorger eigentlich Busfahrer ist und am Freitag für die Gebetsstunde die Buslinie neben dem Gefängnis kurz einem Kollegen übergibt.

 

SZIG: Dr. Mallory Schneuwly Purdie

Die Forscherin spezialisiert sich unter anderem auf die Rolle des Islams und der Muslim*innen in europäischen Gefängnissen. Anfang 2022 publizierte das SZIG in Freiburg i.Ue. die neuste Version des Papers zur muslimischen Seelsorge im Spital, im Justizvollzug, im Bundesasylzentrum und zur Armeeseelsorge. Im September 2022 wird eine sechzehntägige Ausbildung von muslimischen Seelsorgenden in diesen Bereichen stattfinden. Dabei wird es um das Grundprinzip der Seelsorge gehen: Den Menschen ins Zentrum zu stellen, keine Normen zu konstruieren.

 

Text: Selina Keiser