The Student – absolut sehenswert for every student.

TEXT: MIRJAM SCHMITZ

Der Schüler Veniamin in The Student (Russisch «Utschenik», deutscher Titel Der die Zeichen liest) stellt seine Schule und sein ganzes Umfeld mit seinem christlichen Fundamentalismus auf den Kopf. Mutter und Lehrer sind gleichsam restlos überfordert.

Zu Anfang mag man noch darüber lachen, dass Veniamin den Schulschwimmunterricht keineswegs wegen spontaner Erektionen, wie seine Mutter vermutet, sondern «aus religiösen Gründen» nicht besuchen will. Doch man merkt schnell, dass er es bitterernst meint. Und schon bald müssen die Mädchen in «züchtigen» Badeanzügen antanzen, Bikinis sind in der Schwimmhalle nicht mehr erlaubt. Doch das ist erst der harmlose Anfang von Veniamins Forderungen. Sexualkunde habe keinen Platz im Lehrplan: «Ich bin nicht verheiratet, ich brauche keine Sexualkunde.» Die Darwin’sche Evolutionstheorie solle in der Schule nicht unterrichtet werden: «Gott erschuf die Welt in sechs Tagen, wir stammen nicht vom Affen ab.» Veniamin scheint einem religiösen Wahn verfallen zu sein und zitiert in einem Fort die Bibel. Will er mit seinen Äusserungen provozieren? Ist er wahnsinnig? Durchgeknallt? Darauf liefert der Film keine Antwort, fest steht nur: Veniamins Fanatismus wird zu einer gefährlichen Bedrohung für sein ganzes Umfeld. Auf seinem persönlichen Kreuzzug schreckt er vor nichts zurück und bringt seine Mutter sowie die Schulangestellten fast um den Verstand. Die Einzige, die noch klar zu sehen scheint und Widerstand leistet, ist die Biologielehrerin Elena Lvovna. Doch mit ihrem Widerstand steht sie allein da und ist machtlos. Niemand hat Veniamin etwas entgegenzusetzen, niemand hat die Kontrolle über die Situation – ausser er selbst.

Stets werden die jeweiligen Bibelstellen eingeblendet, sie entstammen nicht der Fantasie der Filmemacher: Was Veniamin zitiert, steht tatsächlich in der Bibel. Und die Botschaften sind teils alles andere als nächstenliebend.

Neben allem Grauen besticht der Film gleichzeitig durch Humor und grandiose Situationskomik: So zieht Veniamin zum Beispiel fest entschlossen mit seinem selbstgezimmerten Kreuz los, um es in der Schule an die Wand zu nageln. Doch gleich bei der erstbesten niedrigen Brücke schlägt es oben an und er muss es, statt wie Jesus auf dem Rücken, unter den Arm geklemmt weitertragen. Oder als er seinen «einzigen und liebsten Jünger», den körperlich behinderten Grischa, mit nach Hause bringt, beschwert sich seine Mutter, jetzt habe sie gar nicht genug gekocht für drei Personen, Veniamin solle ihr nächstes Mal doch bitte vorher Bescheid sagen, wenn er einen Freund zum Essen einlade. Veniamins todernste Antwort darauf lautet jedoch: «Das ist nicht mein Freund, Mama, das ist ein Krüppel.»

The Student basiert auf dem Theaterstück des deutschen Dramaturgen Marius von Mayenburg und wurde vom russischen Regisseur Kirill Serebrennikov ins heutige Kaliningrad verlegt. In Canne wurde The Student in der Sektion Un Certain Regard mit dem François-Chalais-Preis ausgezeichnet, später beim Sochi Open Russian Film Festival gewann der Film den Preis für Beste Regie. Doch auch Hauptdarsteller Petr Skvortsov legt eine schlicht Oscar-würdige Performance hin.

The Student lässt einen atemlos zurück und so schnell nicht mehr los. Dieser intelligente, packende und verstörende Film ist in jeder Hinsicht ein heisser Anwärter auf den Grand Prix 2017. The Student wird noch am Donnerstag, 6. April um 14:45h in der Arena gezeigt – ein Must See am diesjährigen FIFF.

Link zum Film

Die Moral eines Henkers

Aiman ist von Beruf Gefängniswärter, mit einem Faible für das Henken. Zu Beginn erscheint das dem Zuschauer als merkwürdig, ist er doch augenscheinlich von eher sanftem Gemüt. Bis sich herausstellt, dass sein Vater ein gehenkter Mörder ist

TEXT: ANNA MÜLLER

Apprentice, so heisst der dritte Langfilm von Boo Junfeng, welcher nicht nur den Film drehte, sondern auch gleich noch das Drehbuch mitschrieb. Weiss man um die Thematik, erwartet man von Anfang an keine Komödie. Das ist der Film auch wahrlich nicht; vielmehr wird in düsteren Farben ein verwickeltes Familiendrama offenbar, deren komplette Ausmasse dem Zuschauer erst im Laufe des Filmes bewusst werden.

Dass sich Aiman für das Henken interessiert, bleibt auch dem Chef-Henker nicht lange verborgen. Er sieht grosses Potential in ihm, nicht zuletzt weil er sich selbst in ihm wiedererkennt. Mit der Abgebrühtheit eines – man kann es nicht anders nennen – Henkers, erklärt er Aiman das Handwerk. Es ist nicht einmal die völlige Kaltblütigkeit des Henkers, die einen erschauern lässt. Viel schlimmer ist die plausible Art, mit der er das Henken als eine moralische (er benutzt sogar das Wort human) Tätigkeit darstellt.

Das Konzept ist gut gelungen, doch es sind die Schauspieler, die aus dem Film etwas wirklich Besonderes machen. Die aussergewöhnlichen schauspielerischen Leistungen Aimans und des Henkers müssen ohne Frage erwähnt werden. Wen man aber bei dem Zweikampf der Moral nicht vergessen darf, ist die Schwester Aimans. Sie scheint diejenige zu sein, die bei der ganzen Geschichte als Einzige wirklich moralisch handelt und den Überblick behält. Denn Aiman sowie der Henker sind, so sehr sie auch versuchen, es sich selbst vorzulügen, mehr als nur ein wenig vorbelastet. Besteht für Aiman noch Hoffnung? Bis zum Schluss bleibt die Frage offen, ob er ein Henker ist oder nicht.

Filminfo
96 Minuten
Genre: Fiktion
2016
Originaltitel: Otmah. Lebanon, Syria (2017)