Die 23-jährige Khatera möchte nicht mehr länger schweigen. Über viele Jahre hinweg wurde sie von ihrem eigenen Vater vergewaltigt. Indem sie ihn anzeigt, bricht Khatera ein ungeschriebenes Gesetz Afghanistans. Es folgen Jahre der Angst und Unsicherheit, in denen sie von der afghanischen Regisseurin Sahra Mani und ihrer Filmkamera begleitet wird.

Schon vor ihren Teenagerjahren glaubte Khatera, es sei normal, dass ihr Vater sie anfasst. Mit zunehmendem Alter begreift sie aber, was er ihr damit antut. Er verheimlichte nichts, die Mutter und auch ihre Brüder bekamen alles mit. Doch aus Angst vor der Gewalt des Vaters wagte niemand, darüber zu sprechen. In ihrer Not wandte sich Khatera an einen Mullah, ein muslimischer Geistlicher. Dieser riet ihr einzig, um Mitternacht zu beten. Andere Mullahs glaubten ihre Geschichte erst gar nicht, da man ihren Vater zu jeder Gelegenheit in der Moschee beim Beten antraf. Erst der dreizehnte Mullah hatte Verständnis, er meinte, sie solle sich mit ihrer Geschichte an die Medien wenden. In einem Fernsehinterview erzählt Khatera von der Gewalt ihres Vaters, die die ganze Familie betraf, dass sie von ihrem Vater mehrmals schwanger wurde, er sie zur Abtreibung zwang oder das Kind in der Wüste ausgesetzt hatte. Und dass sie nun aber doch eine Tochter von ihm bekommen habe, deren Mutter und Schwester sie gleichzeitig ist. Der Fernsehmoderator fragt sie ungläubig, weshalb sie diese Geschichte denn erst jetzt erzähle. Was er nicht weiss: Khatera hat sie davor schon dreimal der Polizei geschildert. Dreimal wurde ihr Vater eingesperrt und genauso oft wieder freigelassen.

In Afghanistan versetzt dieses Interview das halbe Land in Rage. Auch 17 Jahre nach der Herrschaft der Taliban ist Afghanistan ein zutiefst konservatives Land, in dessen Gesellschaft Frauen grösstenteils beherrscht werden.

“Every woman in this country has a hundred owners. Fathers, brothers, uncles, neighbors. They all believe they have the right to speak on our behalf and make decisions for us. That’s why our stories are never heard but buried with us.”

– Sarah Mani, Regisseurin

Khatera kämpft nicht vordergründig für Frauenrechte oder gegen das Patriarchat in ihrem Land. Aber sie hat Angst um sich, ihre Mutter und ihre Tochter Zaineb, die sie über alles liebt, obwohl sie in ihr auch Teile ihres Vaters sieht. Sie kämpft dafür, dass ihr Vater in einem Prozess schuldig gesprochen wird und nie mehr zu ihnen zurückkehren darf. Ihre Tochter soll nicht die gleiche schlimme Kindheit und Jugend erleben müssen wie sie. Unterstützung findet Khatera einzig bei ihrer Mutter, die zu ihr steht und hilft, wo sie kann. Die Brüder sind wütend, da sie in Kabul keinen Job mehr finden. Khatera habe Schande über die Familie gebracht. Auch die Familie ihres Vaters ist ausser sich. Mehrmals ziehen Khatera und ihre Mutter um, weil sie Todesdrohungen erhalten haben.

Gleichzeitig geht der Prozess gegen ihren Vater weiter. Nach jahrelangen Verhandlungen, zahlreichen DNA-Tests und Zeugenaussagen entschliesst sich das Gericht für die Höchststrafe, was in Afghanistan ziemlich sicher der Todesstrafe gleichkommt. Für Khatera ein kleiner Lichtblick am Ende des Tunnels. Ihr Kampf geht jedoch weiter, da sie noch immer von ihren Onkeln verfolgt wird.

„A thousand girls like me“ ist ein bemerkenswert intimer Dokumentarfilm, der die Zuschauerinnen und Zuschauer in eine uns unbekannte Welt mitnimmt. Khateras Kampf für Gerechtigkeit wird mit brutaler Ehrlichkeit erzählt und regt zum Nachdenken an. Der Film zeigt, dass in vielen Teilen der Welt noch immer Ungerechtigkeit und Gewalt herrschen, die man sich im Westen kaum mehr vorstellen kann. Zudem wird einem klar, dass Wege zur Gerechtigkeit mühsam sind und gesellschaftliche Veränderungen Jahrzehnte lang dauern können. Khateras Geschichte erweitert unser westliches Bewusstsein und lässt einem dankbar sein, dass man in einer offeneren Gesellschaft aufwachsen durfte.

Text: Gioia Jöhri

Foto: FIFF