Das Jahr 2020 und Covid-19-Pandemie stellten die sozialen Bewegungen vor einige aussergewöhnliche Herausforderungen. Aber können diese Schwierigkeiten vielleicht auch eine Chance sein?
Die Frauen-, die 68er- oder aktuell die Klimabewegung – soziale Bewegungen sind Teil der Gesellschaft und prägen diese. Da sie diverse Themen und Anliegen vertreten, ist es schwierig, eine allgemeine Definition zu finden. Marc Bühlmann, Professor für Politikwissenschaften, beschreibt den kleinsten gemeinsamen Nenner von sozialen Bewegungen wie folgt: «Ein Zusammenschluss von Menschen, die eine spezifische Perspektive auf ein politisches Thema teilen, ein gemeinsames Ziel verfolgen und dieses durchsetzen möchten.» Durch ihr Engagement wollen die Bürger*innen ein Thema aufgreifen, welches ihrer Meinung nach von den politischen Institutionen zu wenig diskutiert wird. Damit eine soziale Bewegung etwas verändern kann, braucht sie neben Langfristigkeit auch immer wieder die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Typischerweise ebbt diese Aufmerksamkeit immer mal wieder ab und lodert dann durch gewisse Ereignisse wieder auf. So hatte die Atomkatastrophe in Fukushima im März 2011 zur Folge, dass die Anti-Atomkraftbewegung wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. Bei der Aufmerksamkeitslenkung spielen die Medien eine zentrale Rolle, denn sie entscheiden, worüber berichtet wird und worüber nicht.
Eine Krise als Chance
Die Covid-19-Pandemie nimmt seit ihrem Ausbruch sehr viel Raum ein. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten. Für die sozialen Bewegungen stellt dies neben den allgemeinen Pandemieeinschränkungen eine grosse Schwierigkeit dar. Dessen ist sich auch Klimaaktivistin Michelle Reichelt bewusst: «Am 15. Mai 2020 sollte der Strike for Future stattfinden. Der Generalstreik hätte für unsere Bewegung ein Wendepunkt sein und die Bevölkerung hätte die Dringlichkeit unserer Forderungen erkennen können.» Doch der Klimastreik konnte in seiner ursprünglich geplanten Form nicht durchgeführt werden. Stattdessen stellten die Aktivist*innen einen Aktionstag auf die Beine, bei dem unter anderem alle Sympathisant*innen von ihrem Balkon oder Fenster aus mit dem Klimaalarm um 11:59 Uhr die ganze Schweiz vor den Folgen der Klimakrise warnten.
Soziale Bewegungen müssen sich in der aktuellen Situation der Herausforderung stellen, trotz eingeschränkter Mittel Aufmerksamkeit zu generieren. «Um eine Bewegung wäre es nicht gut bestellt, wenn sie auf ihre Forderungen «nur» mittels Versammlungen auf der Strasse aufmerksam machen könnte. Es gibt zahlreiche andere Mittel und Kanäle, um die eigene Perspektive argumentativ zu verbreiten. Insofern kann Covid-19, wie jede andere Krise auch, eine Chance sein», schätzt Marc Bühlmann die Situation ein. So organisierte die Klimabewegung im September 2020 die Aktionswoche «Rise Up for Change». Während der Woche organisierten Aktivist*innen unter anderem die Besetzung des Bundesplatzes und protestierten so gegen das politische und wirtschaftliche System, welches sie für die Klimakrise zur Verantwortung ziehen wollen. «Soziale Bewegungen müssen sichtbar sein und weiterhin Leute für ihre Inhalte sensibilisieren», meint Christina Späti, Professorin für Zeitgeschichte. So gesehen, ist die Pandemie ein äusserer Mechanismus, der die sozialen Bewegungen überdeckt. Doch ihre Anliegen geraten deswegen nicht in Vergessenheit. Ein Beispiel hierfür ist die Black Lives Matter Bewegung, welche 2020 Themen wie Rassismus, Diversität und Chancengleichheit wieder auf die öffentliche und politische Agenda brachte.
Nicht greifbare Energie
Trotz alledem empfindet die Klima- und Queer-Aktivistin Naomi Rey die momentane Lage als schwierig: «Die Motivation ist momentan am Boden. Wenn es nicht möglich ist, in grossen Gruppen zusammenzukommen und sich auszutauschen, ist die Energie, die aus einer sozialen Bewegung heraus entsteht, nicht greifbar.» Denn auch wenn die Aktivist*innen sich darum bemühen, Aktionen zu planen und durchzuführen, stellen sie fest, dass gerade bei grossen Projekten ein Rückgang der Teilnehmer*innen zu verzeichnen ist. Die Leute sind mit sich selbst beschäftigt, sorgen sich vielleicht um ihre eigene Existenz und vergessen dabei die anderen. Mit Blick auf die eigenen Probleme rückt die Tatsache, dass es sich um eine globale Pandemie handelt, immer weiter in den Hintergrund.
Laut Sebastian Schief, Professor für Sozialarbeit, Sozialpolitik und globale Entwicklung, drängen sich aber gerade auch in dieser Situation zentrale Fragen auf: «Was bedeutet die Covid-19-Krise für die Gesellschaft, in der wir leben? Es geht auch darum, welchen Stellenwert die Wirtschaft und das ökonomische Wachstum in Zukunft in unserer Gesellschaft haben sollen und welchen Wert wir den Dingen zuschreiben, die wir besitzen.» Das Aufkommen und Diskutieren dieser Fragen können eine Chance für die sozialen Bewegungen sein. Schliesslich fragen sich in dieser Zeit alle, was sie brauchen, um ein gutes Leben führen zu können. Neben der Wirtschaft wird auch der Stellenwert von Kunst und Kultur oder die Frage nach den systemrelevanten Berufen intensiv diskutiert.
Viele Baustellen und eine ungewisse Zukunft
«Es ist unklar, wie es weitergeht, schliesslich gibt es aktuell viele Baustellen», meint Sebastian Schief. Das Klima, das politische System, Anti-Rassismus oder Migration – das alles sind Themen, die soziale Bewegungen wahrscheinlich in Zukunft aufgreifen werden. Laut Christina Späti bringt aber auch die Covid-19-Pandemie mögliche soziale Bewegungen hervor: «Die Diskussion über die Rolle und Macht des Staates und die Frage nach einem Überwachungsstaat beschäftigen uns immer mal wieder.» Ob es sich bei Corona-Skeptiker*innen bereits um eine soziale Bewegung handelt, lässt sich nicht eindeutig sagen. Schliesslich kennzeichnet sich eine soziale Bewegung unter anderem durch ihr langfristiges Bestehen aus, die in der aktuellen Situation noch nicht gegeben ist. Natürlich ist es schwierig vorherzusagen, wie sich soziale Bewegungen in den kommenden Monaten und Jahren entwickeln und welche uns zukünftig beeinflussen werden. Auf jeden Fall lohnt es sich, sich für die eigenen Anliegen zu engagieren und einzusetzen, um so vielleicht Teil einer sozialen Bewegung zu werden und die Gesellschaft langfristig zu verändern.