Wie die Traumanalyse das Unbewusste an die Oberfläche bringt – anhand einer Kurzgeschichte von Irvin Yalom, seinem Patienten und dessen Träumer.
«Alle Probleme haben ihre Wurzel in der Sexualität. Das ist es doch, was ihr Jungs immer sagt, oder? Also in meinem Fall könntet ihr wirklich Recht haben. Da gibt es ein paar interessante Verbindungen zwischen meiner Migräne und meinem Sexualleben.» Marvin ist 64 Jahre alt und leidet unter Migräneanfällen, so stark, dass sie ihn ausser Gefecht setzen, als er zum ersten Mal Irvin Yaloms Therapiezimmer betritt.
Irvin David Yalom (geboren 1931) gehört heute zu den einflussreichsten Psychiatern Amerikas. Er ist emeritierter Professor für Psychiatrie der Stanford University und ein begnadeter Geschichtenerzähler, schenkt man dem Zitat der Los Angeles Times auf dem Klappentext seines Buches Die Liebe und ihr Henker (1990) Glauben. In der zehnten und letzten Kurzgeschichte dieses Buches trifft Yalom auf Marvin. Zu Marvin wird er eine interessante Beziehung aufbauen. Auch, da in dieser Beziehung noch eine dritte Persönlichkeit mitspielt. Marvins Träumer.
«Alle Probleme haben ihre Wurzel in der Sexualität?»
Die erste Begegnung: «Ich hatte Marvin vor wenigen Minuten zum ersten Mal gesehen, als ich ins Wartezimmer ging, um ihn hereinzubitten. Er sass geduldig auf seinem Stuhl – ein kleiner, rundlicher Mann mit kahlem Schädel und Eulenaugen, die mich unbeweglich durch eine grosse, funkelnde Nickelbrille anstarrten.» In ihrem ersten Treffen erzählt der Mann Yalom von seinem Leiden: «Also, so unglaublich das für Sie klingen mag, aber in den letzten zwölf Monaten waren meine Stimmungen völlig abhängig von meinem Sexualleben. Wenn es mit meiner Frau klappte, war die Welt in Ordnung. Wenn nicht, zack! Depressionen und Kopfschmerzen!» Yalom stellt nach dem Termin fest: «So verging die Stunde. Marvins Schilderung war knapp und präzise, etwas schroff und voller Klischees, Fragen und Zitate anderer Ärzte.» Der Therapeut empfindet Marvins Jovialität als aufgesetzt. Sein Versuch, eine emotionale Nähe zu dem Patienten aufzubauen, scheitert. Auf die Frage, wie er sich fühle, solch intime Details seines Lebens mit einer fremden Person zu teilen, reagiert der Mann abweisend und lenkt ab. Yalom schlägt ein zweites Treffen vor und gelangt in der Zwischenzeit zu einer Erkenntnis. Marvins Probleme hatten vor exakt sechs Monaten begonnen. Da musste ein einschneidendes Ereignis stattgefunden haben.
«Lebenseinschnitte sind immer bedeutsam»
In der Tat hatte Marvin vor sechs Monaten den Entschluss gefasst, sich in den Ruhestand zu setzen. Er selbst mass dem Ereignis kaum Bedeutung bei. «Ich war anderer Meinung», schreibt Yalom. «Lebenseinschnitte sind immer bedeutsam, und der Eintritt in den Ruhestand besonders. Es ist unvorstellbar, dass der Eintritt in den Ruhestand nicht zu einem intensiven Nachdenken über die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung der eigenen Lebensgestaltung führt.» Nicht so für Marvin. «Probleme mit dem Ruhestand? Ich glaube, Sie machen Scherze. Ich habe nur darauf hingearbeitet, dass ich mich eines Tages zur Ruhe setzen kann.» Yalom fordert Marvin auf, in sich hineinzuhorchen und sich zu fragen, was es denn für ihn bedeute, nicht mehr zu arbeiten. Doch: «Wir redeten ständig aneinander vorbei. Marvin schien an der Oberfläche der Dinge zu kleben. Er ignorierte mich oder verstand nicht, was ich sagen wollte.» In den folgenden Treffen beschäftigten sich Therapeut und Patient vermehrt mit Marvins unmittelbaren Problemen; die Migräne, seine Ehe. Dann stellt Yalom fest: «Mittlerweile war es an der Zeit, mit Marvin über die weitere Behandlung zu sprechen. Meiner Ansicht nach eignete er sich kaum für eine tiefschürfende Therapie, die vor allem darauf abzielte, unbewusste Vorgänge aufzudecken.» Marvin wünschte sich eine kurze, wirkungsvolle Behandlung und verschloss sich jeglichen Versuchen des Therapeuten, ihn persönlicher und direkter anzusprechen. «Ich wollte ihm gerade eine Verhaltenstherapie vorschlagen (eine Methode, die darin besteht, konkrete Verhaltensweisen zu ändern, vor allem im Bereich der Kommunikation und des Sexualverhaltens zwischen Ehepartnern), als Marvin beiläufig erwähnte, dass er in den vergangenen Wochen mehrere Träume gehabt habe.»
Des Menschen erste Träume
«Ich hatte ihn schon in der ersten Stunde nach seinen Träumen gefragt; und wie viele andere Patienten antwortete er, dass er zwar jede Nacht träume, sich aber an keinen einzigen erinnern könne. Ich hatte ihm vorgeschlagen, einen Notizblock neben sein Bett zu legen und die Träume aufzuschreiben, aber er schien so wenig nach innen zu hören, dass ich nicht glaubte, er würde meinem Rat folgen. Jetzt nahm er seinen Notizblock und las mir eine Reihe von Träumen vor.» Der letzte davon:
Der Grund unter meinem Haus löste sich auf. Ich hatte einen riesigen Bohrer und wusste, dass ich bis auf 65 Fuss Tiefe bohren musste, um das Haus zu retten. Ich stiess auf eine harte Felsschicht und wurde von den Vibrationen wach.
Yalom ist überwältigt: «Bemerkenswerte Träume!», und kritisch: «Woher kamen sie? War es tatsächlich Marvin, der sie geträumt hatte? Ich sah auf, fast in der Erwartung, jemand anderen vor mir zu finden.» Er schreibt: «Ich war sicher, dass mein erster Eindruck richtig war: dass der Gedanke an den bevorstehenden Ruhestand fundamentale Ängste vor Alter und Tod ausgelöst hatte und dass er versuchte, durch sexuelle Leistungen mit diesen Ängsten fertig zu werden. Der Geschlechtsakt erlangte für ihn so grosse Bedeutung, dass er sich überforderte und schliesslich sexuell versagte.» Yalom glaubt nicht wie Marvin, dass die Wurzeln dessen Leidens in der Sexualität lagen. «Im Gegenteil, Sex war nur ein erfolgloser Versuch, Ängste zu kanalisieren, deren Ursache viel tiefer lagen. Manchmal werden, wie Freud zeigte, sexuell motivierte Ängste auf ganz andere, höchst unterschiedliche Bereiche verschoben. Doch der andere Fall tritt wahrscheinlich genauso häufig ein: Andere Ängste maskieren sich als sexuelle Ängste.» Für den Therapeuten hätte der Traum von dem riesigen Bohrer nicht eindeutiger sein können. «Der Grund unter Marvins Füssen löste sich auf (ein anschauliches Bild für den Verlust der Fundamente seines Lebens) und er versuchte, dagegen anzukämpfen, indem er mit seinem Penis (Symbol des Bohrers) 65 Fuss (ein Symbol für seine 65 Jahre) in die Erde bohrte!»
Marvins Träumer
Die Woche darauf erscheint ein abgeschlagener Marvin zu einem von ihm gewünschten Termin. Er hatte einen schrecklichen Albtraum gehabt:
Die beiden Männer sind gross, bleich und hager. Sie schreiten schweigend über eine dunkle Wiese. Sie sind ganz in Schwarz gekleidet. Mit ihren hohen, schwarzen Zylinderhüten, ihren Fräcken, ihren schwarzen Gamaschen und Schuhen sehen sie aus wie viktorianische Leichenbestatter oder Temperenzler. Plötzlich stossen sie auf einen pechschwarzen Kinderwagen, in dem ein in einen schwarzen Schleier eingewickeltes Baby liegt, ein Mädchen. Wortlos beginnt einer der Männer den Wagen zu schieben. Nach einem kurzen Stück hält er an, läuft um den Wagen zur Vorderseite und lehnt sich mit seinem schwarzen Spazierstock, der jetzt eine weissglühende Spitze hat, vor, öffnet den Schleier und führt die weisse Spitze mit rhythmischen Bewegungen in die Vagina des Babys ein.
Yalom ist vom Traum wie gelähmt. «Ich sah erstaunt zu Marvin auf, der keine Regung zeigte und keinen Sinn für die Kraft seiner eigenen Schöpfung zu haben schien, und sagte mir, dass das nicht sein Traum war, nicht sein Traum sein konnte. Er war nur das Medium, durch dessen Lippen er zum Ausdruck kam. Wie konnte ich, so fragte ich mich, den Träumer finden?» Marvin hatte während dem Träumen nicht etwa die Vergewaltigung eines Kindes als das Schrecklichste empfunden, sondern es war alles andere, das ihm Angst machte; die schwarze Kleidung, die bedrohliche Atmosphäre. Der ganze Traum war voller Angst gewesen.
Yalom ist fasziniert von diesem Träumer, der durch Marvins Mauern «mit einer wichtigen existenziellen Botschaft nach aussen zu dringen versuchte.» Er fragt sich, was der Träumer sagen würde, wenn er ganz offen – ohne Maske und ohne Tricks – mit ihm sprechen könnte:
«Ich bin alt. Ich bin am Ende meines Lebenswerks angelangt. Ich habe keine Kinder und gehe voller Angst dem Tod entgegen. Ich ersticke an der Dunkelheit. Ich ersticke an der tödlichen Stille. Ich glaube, ich weiss einen Ausweg. Ich versuche das Dunkel mit meinem sexuellen Talisman zu durchstossen. Aber es ist nicht genug.»
Marvin und Yaloms Beziehung nimmt nach der Schilderung dieses Traums eine Wende. Der Patient ist ein weitaus besserer Patient, als Yalom erwartet hatte. «Marvin legte in den Sitzungen der nächsten Woche eine erfrischende Offenheit an den Tag.» Der Mann wollte seine Investition nutzbringend anlegen, wie er es ausdrückte. Und: «Sein Vertrauen in die Therapie wurde durch eine unerwartete frühe Dividende gestärkt: Seine Migräneanfälle verschwanden sofort mit dem Beginn der Behandlung auf wundersame Weise.»
Therapeut und Träumer
Die Therapie des Menschen Marvin ist eine sanfte, etwas oberflächliche. Mit Marvins Träumer hingegen führt Yalom gleichzeitig ein faszinierendes Gespräch, von dem Mensch Marvin jedoch völlig ausgeschlossen ist. Entweder weiss dieser nichts von der Existenz des Träumers oder erlaubt ihm aus wohlwollender Gleichgültigkeit, mit dem Therapeuten zu kommunizieren. Nach einigen Sitzungen erreichen Yalom erste hoffnungsvolle Botschaften:
Der Lehrer in einem Internat sah sich nach Kindern um, die Lust hatten, auf eine grosse, schwarze Leinwand zu malen. Später erzähle ich einem kleinen, dicken Jungen – offenbar mir selbst – davon, und er war so aufgeregt, dass er zu weinen begann.
Yaloms Interpretation:
«Marvin hat das Gefühl, dass ihm jemand – zweifellos du, sein Therapeut – die Gelegenheit bietet, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Wie herrlich – eine neue Chance zu bekommen, sein Leben noch einmal ganz neu auf eine schwarze Leinwand malen zu können.»
Gegen Ende der Kurzgeschichte häufen sich die interpretierten Träume zu einem Leitfaden für den Therapeuten. Yalom fühlt sich vom Träumer geführt: «Er zeigte mir, wie ich vorgehen sollte». Der Therapeut bemerkt jedoch auch, wie seine Beziehung zum Menschen Marvin unter seiner Faszination für dessen Träumer leidet. «Von Zeit zu Zeit musste ich meinem Gedächtnis energisch nachhelfen, um nicht zu vergessen, dass der Träumer niemand anders als Marvin war, dass der Träumer mir einen Zugang zu Marvins innerstem Kern öffnete.» Marvin träumte gegen Ende der Therapie nicht mehr so intensiv wie früher und hatte keine Albträume mehr. Yalom sieht dies als ein Ruhen des Träumers, der auf seine dringenden Nachrichten vielleicht einige Antworten gefunden hatte.
Irvin Yalom beweist, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten Geschichten bietet, wenn sie nur in die richtigen Hände gerät, schreibt The New York Times und schreibe auch ich, da ich dem Klappentext dieses wundervollen Werks Glauben schenke.
Text: Selina Keiser
Illustration: btb Verlag
Irvin David Yalom – Die Liebe und ihr Henker (1990)
btb Verlag
«In seinen leicht verschlüsselten Fallstudien erzählt Yalom, wie es ihm gelingt und wie er damit umgeht, psychische Barrieren zu überwinden und zum Kern des seelischen Konflikts seiner Patient*innen vorzustossen.»