Im Anatomiepraktikum sezieren Medizinstudent*innen Leichen. Doch wie fühlt sich so etwas an?

 

Wenn du krank bist, gehst du zum Arzt. Er hört dir zu und findet heraus, was dein Problem ist. Je nachdem verschreibt er dir ein Medikament oder – in schlimmeren Fällen – ist eine andere Behandlung nötig.

Auch bei mir reichten schon mal Medikamente allein nicht aus, als ich meinen Blinddarm herausnehmen musste. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich etwas nervös war vor der OP. Schliesslich würden meine Organe Tageslicht sehen, was eigentlich nicht der Fall sein sollte. Natürlich hatte ich Vertrauen in meinen Arzt. Ich stellte mir aber gleichzeitig vor, wie er das Operieren während des Studiums beim Sezieren gelernt haben muss und wie er sich damals wohl gefühlt hatte.

 

Das Innere des Menschen

Schon seit Jahrhunderten interessiert sich der Mensch dafür, was in seinem Inneren abläuft. Bereits die Griechen und Römer führten in der Antike Operationen mit metallischem Besteck durch. Über Heilung und Erfolg gibt es zwar wenig Informationen. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass man sich nicht nur für die Welt aussen, sondern auch für die Welt im Inneren so interessiert hat.
Eine Zeit lang war es sehr umstritten, sogar verboten zu sezieren oder Operationen durchzuführen, da diese meistens mit dem Tod endeten. Zum Glück aber hat die Medizin grosse Fortschritte gemacht und heute gehört das Operieren zum Alltag von Chirurg*innen. Um das jedoch zu lernen und die Anatomie des Menschen besser zu verstehen, sezieren sie im Studium Verstorbene, die ihren Körper der Wissenschaft gespendet haben.

 

Kaffeepause im Anatomielabor

Ich habe das Glück Myriam Vonnegut zu treffen. Sie studiert im zweiten Jahr Medizin und hat mir von ihrer Erfahrung im Anatomielabor erzählt. Myriam erklärt mir, dass die Anatomiepraktikas bereits im zweiten Semester des ersten Jahres begonnen haben. Sie beschreibt ihre erste Sezierstunde und gibt sogar zu, etwas nervös gewesen zu sein. Das ist verständlich. Wer wäre das nicht, beim ersten Anblick einer Leiche? «Einige fallen sogar in Ohnmacht», meint sie, «aber in meiner Klasse war das nicht der Fall.» Sie erzählt von der entspannten Atmosphäre im Labor: «Wir sind dort zu zehnt in einem kleinen Raum, da fühlt man sich schnell wohl.»
Sie arbeiteten in Zweier- bis Dreiergruppen und teilten sich einen Körper. Jede Gruppe arbeitete allerdings an einer anderen Region des Körpers.
Myriam erwähnt, dass in den ersten Sezierstunden das Gesicht der Leiche abgedeckt war. So hatten sie emotionalen Abstand von der verstorbenen Person. Ich denke, dass die Gesichter abgedeckt waren, könnte noch einen weiteren Grund haben: die gespendeten Körper sollen mit Respekt behandelt werden. Allgemein wissen die Medizinstudierenden kaum mehr über das Leben der Person, weder den Namen, noch woher sie kommen. Lediglich das Geschlecht ist bekannt. Für die wissenschaftliche Arbeit ist es nicht nötig, zu wissen, was diese Menschen für ein Leben führten.
Trotzdem kann man beim Sezieren auch mal vergessen, dass man einen toten Menschen vor sich hat. Die Arbeit an der Leiche erinnert manche an Fleisch. Myriam sagt dazu: «Einigen ist dabei schon der Appetit auf Fleisch vergangen.»
Myriam beschreibt das Arbeitsklima im Labor als «Kaffeekränzchen»: «Dass eine Leiche vor einem liegt, vergisst man schnell.» Nichtsdestotrotz werde der Körper, der der Wissenschaft gespendet wurde, sehr geschätzt. Sie beschreibt ihn sehr passend als «Schatzkiste».
Auf meine Frage, was das Unangenehmste im Labor sei, spricht sie vor allem die Gerüche im Labor an. So etwa Formalin (ein Stoff, der zur Konservierung der Leiche verwendet wird) oder auch der Geruch des getrockneten Blutes. Myriam erzählt mir von einem Trick dagegen: Sie benutzt Tigerbalsam, den sie sich unter die Nase schmiert, um die Gerüche weniger gut wahrzunehmen.
Myriam findet das Anatomiepraktikum eine schöne Abwechslung zu den Vorlesungen, die teilweise etwas trocken sein können.

 

Im Labor ist man in seiner kleinen Gruppe, kann auch selbst die Dinge in die Hand nehmen oder auf Entdeckungstour in der «Schatzkiste» gehen. Sie sagt dazu: «Alles zu lernen ist schon ein grosser Aufwand, aber beim Sezieren selbst hat man gemütlich Zeit zum Anschauen und mit der Gruppe zu plaudern.»

Das Sezieren ist ein wichtiger Bestandteil des Medizinstudiums und hilft die Dinge besser zu verstehen. Die Medizin hat zwar grosse Fortschritte gemacht, aber das Sezieren, wird auch in den kommenden Jahren den Lehrplan des Medizinstudiums nicht verlassen.
Die Neugier nach dem Inneren ist mindestens so gross wie früher, nur heute weiss man, was man finden wird.

Text: Lea Müller

Illustration: Emanuel Hänsenberger