Wie können wir besser Komplimente geben? Was ist eine Sexualtherapie? Eine Psychologin und ein Sexualtherapeut geben Einblicke und Anregungen.
Letzte Sonnenstrahlen fallen auf die Dächer der Berner Altstadt, als vereinzelte Gruppen von Jungerwachsenen die Kramgasse in Richtung Bärengraben heruntergehen. Sie sind auf dem Weg zum ONO, einem kleinen Kulturlokal, verborgen in einem der vielen Gewölbekeller der Altstadt. Eine steile Treppe führt in einen Raum mit einer schicken Bar. Die Einrichtung wirkt modern und verleiht dem mittelalterlichen Flair der gewölbten Backsteindecke eine besondere Stimmung. Neben der Bar betritt man einen Raum mit einer Bühne. Dort finden die verschiedenen kulturellen Angebote des Lokals statt, sei es Theater, Poetry Slam oder Podiumsdiskussionen wie an diesem Abend. Der heutige Anlass gehört zu den sechs Events, die dem Thema «Sex» gewidmet sind. Nun betreten die Psychologin Stephanie Karrer und der Sexualtherapeut Baluu Lehmann die Bühne. Die beiden Expert:innen setzen sich auf ein Sofa und die Moderatorin begrüsst die Gäste mit der Frage: «Was mögt ihr an eurem Körper?» Stille herrscht im Raum. Niemand antwortet, aber das ist auch nicht das Ziel der Frage. Nun fragt die Moderatorin: «Was mögt ihr nicht an eurem Körper?» Bei der zweiten Frage kämen ihr sofort einige Komplexe in den Sinn, bei der ersten Frage müsse sie länger überlegen. Wahrscheinlich ginge es einigen hier ähnlich, sagt sie. Es ist ein wirksamer Einstieg in das Thema Körperwahrnehmung und Sexualität.
Ist Body Positivity veraltet?
Stephanie Karrer und Baluu Lehmann geben beide zu, dass sie an manchen Tagen unzufrieden seien mit ihrem Bauch. Auf die Frage, wie sie zur Body-Positivity-Bewegung stehen, sind sich die Expert:innen einig: Sie halten nicht viel davon. Stephanie erklärt, dass der Gedanke dahinter, wie bei vielen neuen Ideen, ein guter sei. Endlich würden bestehende Körperideale hinterfragt und Diversität an Körperformen zugelassen. Jedoch ziehe sie ein anderes Körperkonzept der Body Positivity vor, und zwar die Body Neutrality. Aber wieso? Laut der Psychologin sei es unmöglich, sich immer im eigenen Körper wohlzufühlen, und diese Erwartungshaltung übe unnötigen Druck auf uns aus. Zudem setze die Body-Positivity-Bewegung den Fokus immer noch zu stark auf das Aussehen des Körpers anstatt auf dessen Funktionen. Denn in erster Linie habe ein Körper nur eine Aufgabe: zu funktionieren. Es sei viel hilfreicher, sich auf diejenigen Attribute zu konzentrieren, welche uns als Mensch ausmachen. Damit seien zum Beispiel unsere Persönlichkeit, Werte und Leidenschaften gemeint. Die Moderatorin fragt nach, wie dieses Ideal erreicht werden könne. Stephanie meint, beim Kommentieren des Aussehens könne man mit dem Umdenken anfangen. «Vor kurzem sagte eine Freundin zu mir, diese Hose tue nichts für mich. Aber eine Hose muss in erster Linie bequem sein. Ich muss nicht immer fuckable darin aussehen.» Auch positiv gemeinte Kommentare sollten überdenkt werden: «Wenn jemand sagt «Dieses Kleid steht dir besonders gut», suggeriert das im Wesentlichen, dass andere Kleider an mir nicht so passend sind. Viel besser wäre es zu sagen: Heute strahlst du richtig!»
«Man behält die Kleider an»
Baluu Lehmann teilt die Ansichten seiner Kollegin. Im Verlaufe des Abends kommen Fragen aus dem Publikum zu seiner Arbeit. «Die Leute haben das Gefühl, dass man sich in der Sexualtherapie ausziehen oder Dinge vormachen müsse. Das ist überhaupt nicht der Fall.» Beispielsweise habe ein Klient des Sexologen grosse Probleme damit, Intimität zu sehen – und sei dies nur, wenn ein Paar in der Öffentlichkeit Händchen halte. «In dem Fall diskutieren wir in der Therapie, was solche Situationen bei ihm auslösen. Dann bemerken wir zum Beispiel, dass sich seine Atmung verschnellert.» Die Erkundung der Körperwahrnehmung und der Emotionen ist Teil der Sexcorporel-Methode, die von Baluu angewendet wird. Eine Person aus dem Publikum fragt, wie oft seine Patient:innen zu ihm in die Therapie kämen. «Das ist sehr unterschiedlich. Einige kommen seit Jahren, andere nur für ein spezifisches Problem, welches wir in zwei Sitzungen lösen können». Sex sei gelernt, sagt er, und über Bedürfnisse zu reden, sei wichtig. Gegen 22 Uhr endet die Veranstaltung und alle bewegen sich langsam in Richtung Bar, um die neuen Erkenntnisse in angeregten Gesprächen zu verarbeiten.
Text Amélie Oberson
Illustration Emanuel Hänsenberger
Die Expert:innen
Stephanie Karrer hat Psychologie studiert und befindet sich momentan in der Ausbildung zur Psychotherapeutin. Auf Instagram führt sie einen Account, auf dem sie regelmässig Videos zum Thema mentale Gesundheit hochlädt. Diese sind auch auf dem vom SRF geführten Instagramprofil „We, Myself & Why“ zu sehen. Eine Plattform, die sich an junge Frauen richtet und deren Meinungen, Porträts und auch Psychologieratschläge publiziert. Baluu Lehmann hat durch seine Sex-Pub-Quiz Bekanntheit erlangt. Mit einer weiteren Sexologin organisiert er Abende mit Quizfragen zum Thema Sex.
We, Myself & Why: https://www.instagram.com/srfwemyselfandwhy/