Das Pendeln im Dreieck Apartis-WG, Studium und Nachtleben bestimmt das Leben der meisten Studierenden in Freiburg. Auf der Jagd nach ECTS-Punkten und Kontakten bleibt das Leben abseits der Uni oftmals auf der Strecke. Was geschieht aber, wenn wir diese Komfortzone aus studentischen Kontakten verlassen? Wie lebt es sich 24 Stunden in der Freiburger Öffentlichkeit? Ein Selbstversuch.
07:58 Ich verlasse meine Wohnung. In meinem Rucksack habe ich nur Schreibutensilien, Kleidung und eine Flasche Wasser. Nicht dabei ist insbesondere ein Plan, wie ich den heutigen Tag verbringen werde. Auf geht’s!
10:40 „Steig nicht auf den Turm der Sankt-Nikolaus-Kathedrale, wenn du deinen Abschluss bestehen willst!“, riet man mir zu Beginn des Studiums. Meinen Bachelor kann ich nun vergessen, die Aussicht aber ist unvergesslich – mir wird bewusst, wie viele Ecken mir in Freiburg noch gänzlich unbekannt sind.
12:03 Plötzlich spaziere ich in einem Schwarm schreiender und wild gestikulierender Jugendlicher in H&M-Uniformen: Die Schule ist aus.
15:07 Ach, der Schönberg – auf einem Spaziergang muss ich meine Vorstellung von einem verschmutzten Vorstadtalbtraum revidieren. Zwar wird schon um drei Uhr ein mittleres Gelage vor dem Kiosk veranstaltet, aber ansonsten finde ich meist gepflegte Häuslein, bei dem jedem Bünzli warm ums Herz wird.
17:51 Durch ein modernes Quartier schlendere ich nach Torry. Durchgefroren und hungrig komme ich dort an und verweile nur kurz. Sorry, Torry. So verschieden die Quartiere sind, sechs Köpfe treffe ich aber überall an: das Freiburger Bündnis, eine Gruppe Politiker. In gezwungener Boygroup-Manier lehnen sie freundlich aneinander und versprechen: „Freiburg zuerst!“ Was genau Freiburg zuerst erreichen soll, bleibt mir rätselhaft.
18:29 „Kommt noch jemand?“, fragt mich die Bedienung im Restaurant. Nein, ich bin alleine. Es kommt auch niemand mehr. Nervös rutsche ich auf dem Stuhl auf und ab, unfähig, mich selbst zu unterhalten.
19:41 Vorsuff ohne Gesellschaft, Einzel-Botellón – der einsame Tiefpunkt des bisherigen Tages.
20:34 Ich nippe solo an einem Bier, wippe solo mit dem Bein und möchte am liebsten sofort verschwinden. Ist es möglich, sich im Ausgang einfach einer Gruppe anzuhängen, ohne wie ein geifernder Zeuge Jehovas auf Mission zu wirken? Einziger Pluspunkt ist, dass ich nun mittlerweile immerhin alle Flaggen an der Decke des Paddy O’Reillys’ auswendig kann.
22:20 Meine Selbstsicherheit ist schon lange verflogen, doch ich starte trotzdem einen neuen Versuch und quäle mich ins Ancienne Gare. Auch meine letzte Hoffnung, mit der Frage nach der Uhrzeit in ein Gespräch zu kommen, scheitert kläglich an vorhandener Armbanduhr und nicht vorhandener Ausstrahlung.
23:44 Einzelgängern begegnet man immer misstrauisch. Gehe ich hinter einer Person, verschnellert diese ihren Schritt. Als ich in der Altstadt aus einer Gasse biege, schreit eine Frau laut auf.
00:21 Oh, ich werde doch noch von Fremden angesprochen! Leider ist es nur eine Prostituierte auf Kundensuche. Ihre Kollegin verabschiedet soeben einen älteren Kunden mit einem Dutzend Rosen in der Hand. Vielleicht der neue Bachelor?
01:33 Auf einer Bank vor einem Haus wurde ich weggewiesen, nun mache ich es mir auf einem Spielplatz bequem. Wie ein Wienerli im Teig versuche ich in meinem Schlafsack, die Nacht ohne Erfrierungen zu überstehen
02:10 Verlustängste waren mir bis anhin fremd, doch nun halte ich meine Schlüssel und Wertsachen fest umklammert.
05:42 Ich bin wach, fühle mich überfahren von einer arktischen Dampfwalze.
07:55 Hurra, wieder daheim! Eine Annäherung an das tägliche Leben hätte es werden sollen. Nur: Alles lief an mir vorbei. Zu keinem Zeitpunkt fühlte ich mich wirklich zu Hause, ohne persönliches Umfeld keine Heimat. Zum Glück findet man in Freiburg an der Uni so schnell Anschluss wie kaum woanders. Sitzt man nämlich erstmal alleine am Tisch, kommt erst recht niemand mehr.
Illustration: Lorenz Tobler