Was für unsereins selbstverständlich erreichbar erscheint, ist für Personen, die aufgrund einer Behinderung weniger mobil sind oft nur schwer zugänglich. Adriano Previtali, Professor für Bundesstaats- und Sozialversicherungsrecht sowie Präsident der Behindertenorganisation Pro Infirmis stand Spectrum Red und Antwort zum Thema Mobilität.
Herr Previtali, in welcher Situation wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass für Sie als Rollstuhlfahrer etwas schwieriger zu erreichen war als für andere?
Ich erinnere mich nicht an eine bestimmte Situation. Es ist eher eine tägliche Feststellung. Sobald man ein wenig von einem vertrauten Weg abgeht, läuft man Gefahr, sich vor Barrieren wiederzufinden, die manchmal unüberwindbar sind.
Die Möglichkeiten, mobil zu sein, haben sich für Behinderte in den letzten Jahren stetig verbessert. Was sind die grössten Fortschritte, wo besteht nach wie vor Handlungsbedarf?
Es wurden tatsächlich viele Fortschritte gemacht. Neue öffentliche Bauten sind grösstenteils zugänglich, auch wenn man manchmal auf erstaunliche Fälle trifft. Ein Musterbeispiel hierfür war das Landesmuseum in Zürich: Komplett renoviert und 2016 pompös eingeweiht, wurde man sich klar, dass der Eingang trotz Investitionen von über 100 Millionen durch den Bund nicht rollstuhlgängig ausgestaltet wurde, worauf dieser grosse Fehler korrigiert werden musste. Um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden, müssten die Architekten besser ausgebildet werden. Diese haben momentan oft nur sehr lückenhaften Unterricht im Bereich der Barrierefreiheit. Zudem sollte die Einhaltung der Regeln zur Verhinderung von baulichen Hindernissen am Ende der Bauarbeiten von den zuständigen Behörden sorgfältig kontrolliert werden, wie dies etwa im feuerpolizeilichen Bereich bereits vorbildlich gemacht wird. Leider ist dies nicht immer der Fall.
Seit 2014 ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft, welches die soziale und berufliche Selbständigkeit von Menschen mit Behinderung erhöhen soll. Ist die Gleichstellung mit diesem Gesetz bereits gesichert oder gibt es weiteren rechtlichen Handlungsbedarf?
Das Gesetz enthält vor allem minimale Regeln. Die Kantone müssen diese aber in ihrer jeweiligen Gesetzgebung noch konkretisieren. Einige Kantone, sogar gewisse Gemeinden, sind weiter gegangen als gefordert, andere haben sich mit diesen Mindestanforderungen begnügt. Eigentlich sollte aber noch ausgiebiger gehandelt werden: Man sollte sich nicht strikt auf das Baurecht beschränken, sondern eine breitere Herangehensweise wählen, die es auch erlaubt, Regeln in Bezug auf die Raumplanung einzufügen. Manchmal ist es bereits dieser vorgelagerte Bereich, welcher für die Rechte von behinderten oder älteren Personen und Kinder entscheidend ist. Dieses Bedürfnis besteht umso mehr, nachdem in den letzten Jahren die Politik der städtebaulichen Verdichtung vorangetrieben wurde. Eine schlechte Quartierplanung kann etwa dazu führen, dass Gebäude schlecht zugänglich werden.
Eine Konsequenz des BehiG ist es, dass sämtliche öffentliche Verkehrsmittel behindertengerecht umgerüstet werden müssen. Nun planen verschieden Privatbahnen, wenig frequentierte Bahnhöfe zu schliessen, statt teure Umbauten vorzunehmen. Muss wirklich ausnahmslos jede entlegene Station zugänglich sein?
Wenn es einen Bahnhof gibt, sollte dieser für Behinderte und ältere Personen zugänglich sein. Das BehiG von 2004 sieht eine Frist von zwanzig Jahren vor, um die Barrierefreiheit zu erreichen, diese dauert also noch bis 2024. Anstatt damit zu „drohen“, genannte Bahnhöfe zu schliessen, wäre es besser, die Unternehmen würden ihre soziale Verantwortung wahrnehmen und gemeinsam mit den Behinderten- und den Seniorenorganisationen praktikable Lösungen zu suchen. Man hat bereits dreizehn Jahre verloren. Wir haben noch sieben, um gemeinsam intelligente und vernünftige Lösungen zu finden. An die Arbeit!
Wie steht es um die Rollstuhltauglichkeit der Gebäude an der Universität Freiburg?
Es kommt auf das Gebäude an: Pérolles etwa ist perfekt angepasst, andere Gebäude nicht, gewisse nur teilweise. Miséricorde beispielsweise ist sogar das Paradebeispiel dafür, wie man ein öffentlich zugängliches Gebäude nicht bauen sollte. Es ist ein Festspiel der Treppen und unnützen Stufen! Als es gebaut wurde, war dies normal: Im Grunde hatten behinderte Personen keinen Platz an der Universität. Diese katastrophale Situation wurde mit der Zeit teilweise mit Massnahmen wie Liften und Rampen korrigiert. Die Situation ist noch nicht ganz befriedigend, aber der Wille, die Situation weiter zu verbessern, ist da. Hoffen wir, dass der Bau des neuen Gebäudes beim Tour Henri die Möglichkeit bieten wird, einen weiteren Schritt in die richtige Richtung zu machen und das Gelände der Miséricorde wirklich inklusiv zu gestalten.
Sie sind sowohl beruflich als auch privat stark engagiert im Invalidenbereich. Wie setzen Sie Ihre Anliegen in der Politik um?
Die primäre Aufgabe von Pro Infirmis ist es, die soziale Beratung für Behinderte und ihre Familien sicherzustellen. Unsere Mitarbeitenden behandeln jedes Jahr über 20’000 Fälle. Diese Arbeit ist essentiell, damit diese besonders verletzliche gesellschaftliche Gruppe ihre Rechte ausüben kann. Unser Sozialsystem ist derart komplex, dass sich die meisten Leute darin nicht zurechtfinden. Abseits dieser Arbeit sind wir natürlich auch in der Politik aktiv. Wir haben unsere Vertreter in den eidgenössischen und kantonalen Parlamenten und treffen regelmässig Politikerinnen und Politiker. Mit anderen Organisationen, den Kantonen und auch der Wirtschaft haben wir zum Beispiel am von Bundesrat Berset lancierten Projekt einer nationalen Behindertenpolitik in Bezug auf Ausbildung und Arbeit teilgenommen. Auf der Basis dieser Vorarbeiten kann der Bundesrat 2018 zum ersten Mal ein umfassendes Konzept in diesem Bereich annehmen.
Viele Personen reagieren unfreiwillig unbeholfen auf Personen mit Handicap. Mit welchen Tipps kann dieser Umgang entkrampft werden?
Mit den Kampagnen von Pro Infirmis haben wir versucht, diese Klischees zu überwinden, einen anderen Blick auf die Behinderung zu ermöglichen. Man sollte die Personen unabhängig von ihrem Defizit betrachten. Ich habe gemerkt, dass es Personen gibt, denen dies möglich ist, andere behalten den Fokus weiterhin – oft unbewusst – auf dem, was „abnormal“ ist. Für viele ist es wohl beruhigend, diesbezüglich klare Kategorien „Normalität vs. Anormalität“ im Kopf zu haben. Während Jahren habe ich versucht, diesen Personen den ersten Schritt abzunehmen, oft mit Humor. Diese Methode hat aber auch seine Nachteile. Man kreiert eine künstliche Situation um ein Problem zu überwinden, das eigentlich gar nicht erst existieren sollte. Heute bleibe ich offen, erwarte aber auch, dass sich das Gegenüber bemüht. Wer heute ein ernsthaftes Verhältnis mit mir aufbauen will, muss den Wert der Diversität erkennen und sich anstrengen. Eine Kampagne von Pro Infirmis war „Kommen Sie näher“: Zusammen können wir eine inklusivere Gesellschaft schaffen, aber dafür müssen Vorurteile überwunden werden – es ist zu bequem, den ersten Schritt immer von der Person mit Handicap zu erwarten.
Foto: Lorenz Tobler