Das Referendum in Katalonien ist Ausdruck eines modernen Separatismus. Welche Herausforderungen bedeuten die Bestrebungen nach Eigenstaatlichkeit für die Europäische Union?

Seit Jean Monnet auf den Ruinen des Zweiten Weltkrieges einen ausgefeilten Plan für die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl entwarf, erzählt das europäische Friedensprojekt eine Geschichte von dem Verzicht auf nationalstaatliche Souveränität zugunsten europäischer Kooperation im gemeinsamen Interesse. Historiker bemühen oftmals die Dynamik eines geschichtsträchtigen Momentums für europäische Zusammenarbeit während der Nachkriegszeit, um dem Europäischen Sonderweg Rechnung zu tragen. Das Zusammenspiel von Bürgerbeteiligung und Föderalismus, oftmals unter der Betrachtung des Schweizer Leitbildes, hat kontinuierlich die Relevanz von Binnengrenzen und das Bedürfnis nach nationaler Selbstbestimmung zurückgedrängt.

Dieses Narrativ der Europäischen Integration scheint im Zuge der Finanzkrise substanziell an Glaubwürdigkeit verloren zu haben. Neben erstarktem Rechtspopulismus enthüllt sich zusehends die Schlagkraft nationaler Sezessionsbestrebungen gegenüber stagnierender Integration auf dem Europäischen Kontinent. Das letztlich gescheiterte Referendum über die schottische Unabhängigkeit, die im ersten Artikel des Parteistatuts der Nieuw-Vlaamse Alliantie formulierte Selbstbestimmung der Republik Flandern und insbesondere die unbesonnen inszenierte Abstimmung zur katalanischen Abspaltung verkörpern eine beispiellose Art von modernem Separatismus.

Wie passen diese regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen in das Europäische Narrativ von nationalstaatlicher Zusammenarbeit?

Politischer oder Ökonomischer Separatismus?

Der Europäische Kontinent hat eine ausführliche Geschichte kriegerischer Konflikte um die territoriale Integrität und das Selbstbestimmungsrecht seiner Völker. Getrieben von politischem Unmut, Ressentiment und einem Gefühl staatlicher Überlegenheit haben Separatisten Grenzen verschoben und Staaten proklamiert. Die immer wiederkehrende Betonung sozial-konstruierter Rivalitäten zwischen benachbarten Völkern zur Legitimation von separatistischen Motiven hatte bereits Sigmund Freud in seiner Theorie zum Narzissmus der kleinen Differenzen analysiert.

Diese Rhetorik ist ebenso bei den heutigen Separatisten zu beobachten. So ist in Schottland von der Ablehnung des Westminster-Systems und der englischen Mentalität sowie der eigenständigen schottischen Zivilgesellschaft zu lesen, während in Katalonien die Bewahrung der eigenen Kultur und Sprache täglich hervorgehoben wird. Doch was unterscheidet den modernen Separatismus von den blutigen Auseinandersetzungen separatistischer Kräfte während des irischen Bürgerkrieges oder den terroristischen Aktivitäten der baskischen Untergrundorganisation ETA?

Während der irische und auch der baskische Separatismus hauptsächlich von nationalistischen Bestrebungen gegen externe politische Unterdrückung geprägt war, scheinen heutige Motive vielschichtiger und miteinander verflochten zu sein. Hört man dem katalanischen Regionalminister für auswärtige Angelegenheiten Raul Romeva oder der schottischen Ministerin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party zu, gewinnt man den Eindruck, politische Unabhängigkeit sei vorwiegend eine wirtschaftliche Angelegenheit. In Katalonien erhofft man sich Vorteile im globalen Wettbewerb der Wirtschaftsregionen und Unabhängigkeit in steuerrechtlichen Fragen und auch in Flandern möchte man lieber heute als morgen die Ausgleichszahlungen an die Wallonen unterbinden.

 Ein Pro-Europäischer Separatismus?

 Neben den angepriesenen wirtschaftlichen Vorteilen kontrastiert sich ein ungekanntes politisches Selbstverständnis der Abspaltungsbefürworter. Organisationen wie Assemblea National erklären sich als freiheitlich-zivile Bewegungen, die für sich beanspruchen, in einem demokratischen und europäischen Geiste zu agieren. Hierbei werden europäische Grundsätze wie das Subsidiaritätsprinzip und Utopien von einem föderalen Europa herangezogen, um der Idee von einem Europa der Regionen Nachdruck zu verleihen.

Dieser gelebte europäische Patriotismus stösst in Brüssel allerdings nicht unbedingt auf Begeisterung. Tatsächlich hat die Europäische Union die regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen scharf verurteilt und als vorrangig nationale Herausforderungen betitelt.

Auch die internationale Presse prognostiziert nahezu einhellig einen Weg ins Chaos, welcher den Fortbestand der Europäischen Union gefährde, sollten die Separatisten Erfolg haben. Diese destruktiven Folgen wären dabei vor allem in den abgespaltenen Regionen zu spüren. Ökonomen prognostizieren aufgrund des zwangsläufigen Austritts aus der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einen signifikanten Einbruch der Wirtschaftskraft und eine Verdopplung der Arbeitslosigkeit.

Wie soll also die Europäische Union mit den separatistischen Bestrebungen umgehen? Die Europäische Union steht zweifellos vor wegweisenden gesellschaftlichen Umbrüchen. Soziale und politische Unsicherheiten scheinen sich hierbei vermehrt in immer besser organisierten regionalen Bewegungen zu äussern. Europaweite Proteste lassen allerdings nicht den Überdruss an einem europäischen Superstaat erkennen, sondern verlangen viel mehr den verlässlichen Stabilitätsrahmen der Union – trotz Ablehnung der nationalstaatlichen Zugehörigkeit. Dieses Paradox ist aufgrund der nationalstaatlichen Realität in Europa schwer zu erklären. Der europäische Strukturausgleich zwischen den Staaten scheint keine Bedenken zu wecken, während man gegen die nationalen Ausgleichsmassnahmen rebelliert. Diese Forderungen muten egoistisch an und passen schlicht nicht in das Europäische Narrativ.

Winston Churchill formulierte nach den Gräueltaten zweier Weltkriege seinen Wunsch nach Frieden, Sicherheit und Freiheit innerhalb der Vereinigten Staaten von Europa. Rund siebzig Jahre später ist die Europäische Union kein vereinigter Staatenbund, doch sie kann auf eine einzigartige Geschichte von Frieden und Wohlstand in einer Wertegemeinschaft von Nationalstaaten zurückblicken. Es liegt nun an der Europäischen Union, das Momentum der gesellschaftlichen Umbrüche zu nutzen, um eine neue demokratische und integrative Dynamik auf dem Europäischen Kontinent zu entfalten.

Fotocredit: Flickr