In einem Interview mit der Zeitung Der Bund am 26. August berichtete der Flüchtling El Ghazzali über seine schwierigen persönlichen Erfahrungen in der Schweiz. Was das Interview auslöste, ist bemerkenswert.
Der marokkanische Schriftsteller Kacem El Ghazzali wurde in seiner Heimat wegen eines islamkritischen Blogs verfolgt. Er floh vor drei Jahren in die Schweiz. Im angesprochenen Interview kamen Linke, FDP, Rechtspopulismus und Islamismus allesamt nicht gut weg. Der 27-Jährige holte zu einem politischen Rundumschlag aus. Das Corpus Delicti, das dem Marokkaner aber schliesslich zum Verhängnis wurde, war eine Äusserung über die Burka, welche einige Feministinnen zum Toben brachte.Die Feministin Franziska Schutzbach mokierte sich angesichts der Aussage: „Wer freiwillig einen Hijab anzieht, hat keine liberale Entscheidung gefällt.“ In einem offenen Brief, geschrieben mit der Diktion einer Professorin, die Studierende aufklären möchte, warf sie Ghazzali Paternalismus, Rechthaberei und Schöngeisterei vor. Er würde über abstrakten Liberalismus und den Freiheitsbegriff philosophieren, weit weg von der Realität. Im Gegensatz zu Schutzbach weiss Ghazzali sehr genau, was es mit der Freiheit und der Unterdrückung auf sich hat. Ihm vorzuwerfen, er spekuliere wie ein Hegelianer über die Bedeutung von Freiheit, gleicht einer spektakulären rhetorischen Salve.
Die Expertenfrage
Regierungsrätin Jacqueline Fehr, ebenfalls vollkommen empört angesichts der Aussagen von Ghazzali, stellte geradezu seine Integrität als Experte in Frage und schrieb: „Reicht es heute einfach, als Muslim gegen den Islam zu wettern, um als Experte zu gelten?“ Ghazzali hatte sich weder als „Experte“ noch als „Muslim“, sondern als Atheist bezeichnet. Er wäre, im Gegensatz zu Fehr, auch zu einer von der Wochenzeitung lancierten Debatte bereit gewesen. Daraufhin schrieb Regula Stämpfli am 15. September: „Ein besseres quod erat demonstrandum als der Post der Regierungsrätin für die herrschende Angst unter progressiven Menschen, sich irgendwie kritisch zu Burka, Scharia oder Islam allgemein zu äussern, hätte es nicht geben können.“ Es fällt einem schwer, auch wenn man womöglich gar nicht zustimmen möchte, ihr nicht – zumindest teilweise – recht zu geben.
Die Fabrikation des „Feministinnen-Zoffs“
Interessant ist, dass die Empörungswelle, die Ghazzali hervorgerufen hatte, kurz darauf medial als „Feministinnen-Zoff“ präsentiert wurde, der in erster Linie von der Burka handelte. Mit „Zoff“ hatte das Ganze „etwa so viel zu tun, wie eine Bundesratssitzung mit Gruppensex“, schrieb Michèle Binswanger am 29. September. Unter den „fünf der profiliertesten Frauen des Landes“, wie 20 Minuten die Feministinnen nannte, sprachen alle im Namen der „Freiheit“ und der „Aufklärung“ über die Burka. Tatsächlich hat sich seit Ghazzalis Interview eine Flut von Frauenstimmen in den Medien zum Thema Burka bemerkbar gemacht. Von einem Streit, wie er beispielsweise in Deutschland unter den Feministinnen vorherrscht, konnte jedoch nicht die Rede sein. Aus einer ursprünglichen Kritik der Schweizer Parteienlandschaft wurde ein „Feministinnen-Streit“ fabriziert.
Abwehr von links
Dass ein Interview solch hohe Wellen schlägt, ist eher selten. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich daraus eine derart beschränkte Debatte formieren konnte. Sie bewegte sich bloss im Rahmen von Pro- oder Contra-Burkaverbot. Das Themenspektrum, welches Ghazzali im ursprünglichen Interview angerissen hatte, wäre jedoch deutlich breiter gewesen. Weshalb dieser Abwehrreflex der Linken? Von Seiten der SVP oder der FDP, die gleichermassen kritisiert wurden, echauffierte sich niemand. Warum kann sich ein Marokkaner, der in seinem Herkunftsland der marxistischen Linken angehörte, nicht mit der Linken in der Schweiz identifizieren? Vielleicht sollte sich die Linke diese Frage einmal stellen. Warum empören sich gleich mehrere Feministinnen angesichts einer Äusserung über den Hijab? Keine der Feministinnen, die ihre Meinungen dazu kundtaten, trägt selber einen Hijab. Gibt es nicht eine ganze Bandbreite von wichtigeren Themen, welche dringend debattiert werden müssten?
Warum thematisiert man beispielsweise nicht die Geschäfte der Schweizer Waffenindustrie mit den Financiers und den spirituellen Vätern des Dschihadismus in Saudi-Arabien? Warum macht man auf Seiten der Linken die Kritik an den repressiven und schändlichen Praktiken, die im Namen einer Religion ausgeübt werden und an denen die Schweiz genauso wie die restliche Welt mitbeteiligt ist vereinzelt zum geistigen Sperrgebiet? Weshalb hörte man von den gleichen Feministinnen letztes Jahr nie ein Wort über die dreckigen Geschäfte, die Hillary Clinton mit der saudischen Königsfamilie, den Vorreitern einer androzentrischen Welt, machte?
Mit der Gefahr, zu viele Fragen aufgeworfen und keine Antworten gegeben zu haben, darf gesagt werden, dass es zu einer Burka-Abstimmung kommen wird, obschon es sich bei dieser Thematik womöglich um reine Symbolpolitik handelt.
Fotocredit: Jonas Fend