Journalistin und Autorin Michèle Binswanger spricht mit Spectrum über die Klitoris und die weibliche Lust. Auch 2017 sind das teilweise noch Tabuthemen.

Michèle Binswanger, wir sprechen über weibliche Sexualität, Lust und die Klitoris. Sollte dieses Interview nicht besser eine Frau führen?

Nein, warum denn? Ich finde es gut, wenn auch Männer sich dafür interessieren, wie die weibliche Sexualität funktioniert. Das geht sie ja auch etwas an. Ausserdem wissen auch viele Frauen selbst sehr wenig darüber, wie die weibliche Sexualität tatsächlich funktioniert.

Alle wissen, wie ein Penis aussieht. Die wenigsten könnten aber eine anatomisch korrekte Klitoris zeichnen. Wieso?

(lacht) Die Klitoris kannte man eigentlich bereits bei den alten Griechen, man wusste von der Existenz eines weiblichen Lustorgans, das ähnlich funktioniert wie der Penis beim Mann. Über Jahrhunderte wurde das aber immer wieder totgeschwiegen. Das geht so weit, dass heute noch Anatomiebücher gedruckt werden, in denen die Klitoris anatomisch unvollständig dargestellt ist. Wenn es nicht mal Schulbücher schaffen, die anatomischen Grundlagen verständlich und korrekt darzustellen, wie sollen wir es dann verstehen?

Schuld dafür sind also Schule und Wissenschaft.

Ihnen kommt dabei mindestens eine wichtige Rolle zu. In der Wissenschaft liegt der erste Schritt: Man muss auch einheitliche Begriffe haben, um über Körperteile zu sprechen und sich damit auseinanderzusetzen.

Spielen da nicht auch noch rein anatomische Gründe mit?

Doch natürlich, die Klitoris sieht man nicht. Damit fängt eigentlich alles an: Jungs haben ihr „Pfiffli“, können von klein auf daran rumspielen und entdecken ihr Geschlechtsorgan früh. Wenn Mädchen vor anderen Leuten beginnen, in sich rumzustochern, dann wird das gesellschaftlich viel weniger akzeptiert. Mädchen werden von klein auf dahingehend erzogen, sich nicht zu sehr für ihre Geschlechtsteile zu interessieren. Dazu kommt, dass die Scheide erst später östrogenisiert ist, so, dass man schmerzfrei eindringen kann. Wenn man aber den Umgang mit seiner Sexualität lernen will, muss man sich damit beschäftigen, sie erforschen. Man muss lernen, Lust zu empfinden.

Soll man denn die weibliche Sexualität in der gesellschaftlichen Wahrnehmung überhaupt auf die gleiche Stufe stellen wie die männliche?

Gerade im Zeitalter der Internetpornografie finde ich das schon wichtig. Viele Jugendliche meinen, die Grundbegriffe der Sexualität in der Pornografie lernen zu können. Viele fühlen sich davon unter Druck gesetzt, weil sie das Gefühl haben, sie müssen sich so verhalten, wie sie das in der Pornografie gesehen haben. Eine offenere Auseinandersetzung mit dem Thema führt zu mehr Wissen und Klarheit und auch zum Abbau von Hemmungen. Es wird aber nie so sein, dass die weibliche Sexualität in der öffentlichen Wahrnehmung den gleichen Stellenwert hat, wie die männliche.

Wieso nicht?

Weil die männliche Sexualität ganz anders funktioniert als die weibliche Sexualität. Männer funktionieren in ihrer Sexualität sehr visuell. Frauen haben sehr viel mehr Trigger, die Lust auslösen können. Frauen brauchen nicht immer nur Bilder, sondern Erzählungen, in denen es um mehr als nur eine Körperform geht, beispielsweise um den Charakter eines Mannes.

Die weibliche Sexualität ist also zu kompliziert, um gesellschaftlich gleich wahrgenommen zu werden wie die männliche.

„Zu kompliziert“ ist ein wenig fatalistisch. Aber sie ist sicherlich komplizierter als bei den Männern. Aber gerade das macht sie ja auch spannend. Ich glaube abgesehen davon nicht, dass es erstrebenswert ist, für die gesellschaftliche Wahrnehmung der weiblichen Sexualität absolute Gleichheit zur männlichen zu fordern. Wichtig ist, dass die Frauen selbstsicherer werden, dass sie neugieriger sind und sich trauen zu fragen. Wenn man befriedigt ist und sich wohl fühlt in der Sexualität, wirkt sich das auch sonst positiv auf Auftreten und Selbstsicherheit aus.

Wo muss man denn ansetzen, um da hin zu gelangen?

Die Diskussion muss auf mehreren Ebenen stattfinden: Der erste Schritt liegt bei der Wissenschaft. Solange die Wissenschaft keine standardisierten Begrifflichkeiten und korrekte Darstellungen liefert, kann kein Diskurs stattfinden. Im sozialen Bereich muss man dann ohne Scham darüber sprechen. Schliesslich ist es auch wichtig, dass es gesellschaftlich zum Thema wird. Und da finde ich, sind wir auf gutem Weg.

Michèle Binswanger ist Journalistin beim Tages Anzeiger. Sie wurde 2010 zur Schweizer Journalistin des Jahres und 2016 zur Gesellschaftsjournalistin des Jahres gekürt. Dieses Jahr hat sie ihr zweites Buch veröffentlicht mit dem Titel „Fremdgehen – ein Handbuch für Frauen“.

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