„Zeit-Not ist eine schlechte Entschuldigung, also nimm dir einen Abend frei und komm doch vorbei!“ So lautet die Facebook-Beschreibung der diesjährigen Studienwoche des Lehrstuhls für Soziale Arbeit, Sozialpolitik und Soziologie. An vier Abenden vom 30. April bis zum 3. Mai referieren und diskutieren verschiedene Gäste mit dem Publikum an der Universität Freiburg unterschiedliche Aspekte des Themas.
Wann warst du das letzte Mal in Zeitnot? Lass mich raten. War es heute Morgen, als du aus dem Haus gestresst bist, um deinen Bus nicht zu verpassen? War es, als du aus dem Vorlesungssaal stürmtest, um pünktlich zu deinem Zahnarzttermin zu erscheinen?
Dies sind natürlich nur versinnbildlichte Beispiele für Situationen, in denen wir als Teil unserer Gesellschaft in Zeitnot geraten. Zeitnot scheint etwas komplett Selbstverständliches, Alltägliches zu sein. Wer auf Nachfrage tatsächlich Zeit hat, und das noch unbegrenzt (ein ganzer Nachmittag oder Abend kommt schon ziemlich nahe an diese Kategorie heran), macht sich heutzutage eindeutig verdächtiger als jemand, der die nächsten drei Monate ausgebucht ist. „In der Tat, das ist nachvollziehbar“, sagen wir dann und nicken verständnisvoll. Der Satz „Ich habe heute wieder mal unglaublich viel zu tun.“ wurde, wie und wann auch immer, zum Grundtenor unserer Zeit. Die meisten unter uns können sich sehr gut damit identifizieren. Diese Entwicklung kam nach und nach mit den mittlerweile vier industriellen Revolutionen und den Rest der Geschichte kennen wir. Der Zweck der Studienwoche soll kein historischer Abriss sein, sondern vielmehr eine Bestandsaufnahme und, was noch viel wichtiger ist, ein Blick in die Zukunft.
Erster Abend: Beschleunigungszwang und gesellschaftliche Folgen
So beginnt der erste Abend mit einer Einführung in die Thematik der Beschleunigung und Entfremdung, wie sie beim Soziologen und Philosophen Prof. Dr. Hartmut Rosa thematisiert werden. Mit seinem gleichnamigen Buch will er mitreissen, Widerhall finden und Forschungen inspirieren – denn er wendet sich der Frage nach dem guten Leben zu und weshalb wir unter den aktuellen Umständen kein gutes Leben führen. Unser gegenwärtiges Leben, persönlich wie gesellschaftlich, bedarf laut Rosa einer Reform. Er prangert die allgemein um sich greifende Leidenschaftslosigkeit auch innerhalb der Soziologie und Sozialphilosophie an, welche sich mit routinierten Lösungen in Paradigmen à la Thomas Kuhn zufriedengeben. Dies sei auch der Grund, weshalb keine wirklich vorzeigbaren Resultate vorhanden wären. Peter Schulz, der an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena einen Master in Gesellschaftstheorie abgeschlossen hat und zurzeit bei Prof. Dr. Hartmut Rosa doktoriert, begibt sich zu uns an die Uni Freiburg, um über die zentralen Thesen Rosas zu sprechen.
Zweiter Abend: Geld – die grosse Beschleunigung
Der zweite Abend gehört Christoph Pfluger, Autor des Buches Das nächste Geld und Herausgeber des Magazins Zeitpunkt. In Form eines interaktiv gestalteten Seminars wird er aufzeigen, inwiefern seiner Meinung nach die Art unserer Geldschöpfung eine direkte Auswirkung auf das Mass der Veränderungen hat.
Dritter Abend: Sozialarbeit und Stadtentwicklung in einer beschleunigten Zeit
Der darauffolgende Anlass wird vom Soziologen Dr. phil. Patrick Oehler bestritten. Dr. Oehler diplomierte in Sozialpädagogik an der Fachhochschule Basel, machte danach einen Master in Community Development in München und doktorierte schliesslich als Soziologe an der Freien Universität Berlin. Momentan arbeitet er am Institut für Sozialplanung, Organisatorischen Wandel und Stadtentwicklung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. In Zusammenhang mit der Stadtentwicklung legt Herr Oehler dar, warum insbesondere die Soziale Arbeit mit der sich beschleunigenden Gesellschaft zahlreiche Änderungen durchmacht.
Vierter Abend: Und jetzt? Wandel
Wie geht es nun weiter? Wird die Beschleunigung irgendwann ein Ende nehmen? Soll überhaupt etwas dagegen unternommen werden? Mit einem World Café am Abend des 3. Mai wird die Studienwoche beendet – zumindest formell, denn die gegebenen Inputs sollen zum individuellen Weiterdenken anregen. Das sogenannte World Café setzt sich aus verschiedenen nachhaltigen Organisationen zusammen, die an Diskussionstischen ihr Projekt vorstellen und erzählen, wie sie mit der Beschleunigung diverser Prozesse umgehen und so aktiv die Zukunft mitgestalten. Die Besucherinnen und Besucher sind dazu aufgefordert, selbst mitzudenken und Ideen auf Zettel zu schreiben, welche an einer für alle ersichtlichen Pinnwand aufgehängt werden.
Wir sprechen über Zeitnot. Darüber, wie es ist, sich zu wünschen, ein Tag hätte 48 Stunden, aber sich zu fühlen, als stünden einem höchstens zwölf zur Verfügung. Statt Terminen vertagen wir lieber unsere Gesundheit auf morgen – ohne zu wissen, ob es dann schon zu spät ist. Das Projekt „Zeit-Not“ ruft uns alle dazu auf, uns auch einmal Gedanken darüber zu machen, was in drei, sieben oder 15 Jahren sein soll. Denn ewig kann es so nicht weitergehen. Unsere Gesellschaft rast wie ein ausser Kontrolle geratener Bus einen steilen Berghang hinab, immer schneller werdend. Die Bremsen scheinen schon seit Langem nicht mehr zu funktionieren. Nun müssen wir uns alle dieses Problems annehmen, die Motorhaube aufklappen und schauen, was noch zu retten ist. Erlaubt eurem Geist, einmal zur Ruhe zu kommen. Die Lösungen liegen manchmal näher als angenommen und bedürfen einer Kreativität, die uns allen innewohnt. Die Studienwoche kann als ein Anfang gesehen werden, als kleiner Anstoss in diese oder jene Richtung. Es ist an der Zeit, sich der Not zu stellen.