Der Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an der Uni Freiburg zeigt: Viel Wirbel schafft noch keine Bedeutung.

Noch bevor man den Ort des Geschehens vollends erreicht, passiert man schon die ersten Polizisten. Schilder lotsen einen zu den zwei einzigen Eingängen, den zwei schmalen Brückengängen zur Aula Magna; die sind so schmal, dass ein Wächter allein jeden Eintretenden auf unlautere Absichten scannen könnte, trotzdem wachen gleich ein Dutzend, man lässt sich nicht lumpen. Nicht nur Rucksack und Jacke muss man abgeben, auch Stift und Papier fürchtet man – zu Recht, schliesslich wusste schon Napoleon: „Letztendlich unterliegt das Schwert immer der Feder.“, und man schreibt ja ausserdem für Spectrum, und Spectrum schreibt bekanntlich scharf.

Kurz bevor die mehr als eine Dreiviertelstunde Wartenden von ihrer gespannten Erwartung erlöst werden, verhängt man noch die Fenster – wegen potenzieller Scharfschützen? Die Aula Magna ist nun komplett abgeschottet, Freiburgs Ground Zero. Und dann, endlich, wie von Geisterhand, tun sich die Wände auf, und in gleissendem Licht – so müssen die Paradiespforten aussehen – zeichnet sich die Silhouette des Mannes ab, welcher Urheber all dieser Aufregung ist: Sein schlohweisser Haarschopf, in welchem alles bis auf die letzte Strähne perfekt parallel liegt; sein markantes Profil mit der Schnabelnase und den umgekehrt U-förmigen Mundwinkeln – eine ehrwürdige, eine weise Gestalt, eine Miene ständig mahnender Strenge, eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit einem Uhu.

Der Mann, um dessen physische Unversehrtheit der Staat Freiburg so vorbildlich bemüht ist, gilt als langweiligster Politiker Deutschlands. Die Aufgabe des Bundespräsidenten, moralische Integrität zu verkörpern, ist ihm auf den Leib geschneidert. Frank-Walter Steinmeier eckt nirgendwo an, er hat es zur Perfektion gebracht in der Kunst, banale Phrasen sehr tiefgreifend vorzutragen wie zum Beispiel: „Wir müssen über Demokratie nicht mehr nur reden, wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten.“ Sobald eine Formulierung in den Verdacht gerät, auch nur ein bisschen würzig zu sein, nimmt er sich sofort den Wind aus den Segeln. Wer könnte etwas auszusetzen haben an einem, der es allen recht macht?

An diesem Morgen (Donnerstag, 26. April) kommt er in die Uni Freiburg, um mit seinem Schweizer Amtskollegen Alain Berset, einer Politikwissenschaftlerin, einer Jus-Professorin und der Co-Chefin der Operation Libero, Flavia Kleiner, über die Frage zu diskutieren: Kann die Demokratie im 21. Jahrhundert bestehen?

Steinmeier, der die Diskussion eröffnen darf, nennt „drei Stichpunkte“ zum Thema, die jeweils mehrere Schachtelsätze umfassen. Spiegelstriche bilden die Favoriten in seinem rhetorischen Stilmittel-Inventar. Anschliessend soll eine Diskussion die Antwort auf die Leitfrage suchen. Aber zuerst erklärt Steinmeier noch, wie grossartig die Schweizer direkte Demokratie ist und weshalb er sie trotzdem nicht in Deutschland will.

Es geht um China, autoritäre Staaten, antidemokratische, populistische Bewegungen, Digitalisierung, Überwachung, dann wieder direkte Demokratie. Steinmeier möchte klarstellen: Das deutsche parlamentarische Demokratiesystem möchte seinen Bürgerinnen und Bürgern nicht möglichst Verantwortung vorenthalten; im Gegenteil, viele kommunale Verwaltungen suchten händeringend neue Köpfe, die sich in politische Entscheidungsprozesse einbringen wollen.

Eine politische Ermüdung bei Vielen – dieses Motiv kehrt immer wieder. Welche Ursachen dahinterstecken könnten, das kommt in der Gesprächsrunde leider zu kurz. Zweimal erwähnt Steinmeier die immens steigenden Mieten in Grossstädten, einmal die Tatsache, dass Millionen deutscher Arbeitnehmerinnen und -nehmer nichts vom pausenlosen Wirtschaftswachstum haben, und die fehlende Infrastruktur in ländlichen Regionen. Diese Entwicklungen fanden und finden unter Regierungen statt, an welchen seine Partei fast durchgehend beteiligt war. Vielleicht scheuen immer mehr nicht aus purer Unlust mehr politische Verantwortung, vielleicht haben sie auch den Eindruck, dass Politik nur noch wenig ausrichten kann. Der Umgang der deutschen Politik mit dem Diesel-Skandal zeigt: Die Arena, in der die Entscheidungen gefällt werden, liegt viel zu oft nicht mehr im Parlament, sondern in CEO-Büros. Auch was soziale Gerechtigkeit anbelangt, hat die Politik, hat die deutsche sozialdemokratische Partei an Glaubwürdigkeit stark verloren. Zu verdanken hat sie das ihrem Ex-Kanzler Gerhard Schröder, unter dem Steinmeier Chef des Bundeskanzleramtes war und einer der Hauptarchitekten der Hartz-Reformen. Viele der von Hartz-IV-Betroffenen fühlen sich von der SPD verraten – zu Recht. Kanzlerkandidat Martin Schulz erlebte einen Hype, als er den Anschein erweckte, das Hartz-System ernsthaft reformieren und endlich wieder echte sozialdemokratische Politik machen zu wollen. Und er erlebte den Absturz, als klarwurde, so ernst meint er es doch nicht.

Wie soll die Politik reagieren, wenn sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger nicht mehr durch sie vertreten fühlen und sich Populisten zuwenden? Moderator Nicola Forster, Begründer des Jungakademiker-Think-Tanks Foraus, der mit Fliege, Siebzigerjahre-Lockenkopf und roten Socken einen Schuss flippige Energie in die Runde brachte, zitierte nach Emmanuel Macron die drei möglichen Strategien: Die Merkel-Strategie (Ignorieren), die Kurz-Strategie (Eingliedern) und die Strategie des Bekämpfens. Mit letzterer meint Macron natürlich die richtige und sich selbst.

Wie wäre es mit einer vierten Strategie: Zuhören? Flavia Kleiner, die Co-Chefin von Operation Libero, betonte, wie wichtig es sei, immer wieder aus seiner Meinungsblase herauszutreten und gegensätzliche Meinungen zu hören. Operation Libero schickt ,,Online-Warriors‘‘ ins Netz, die systematisch populistische Kommentare aufspüren und die Fakten richtigstellen. Zweifellos eine sinnvolle Arbeit, doch die Frage bleibt, ob man die Leute auf diese Weise wirklich zum Umdenken bewegen kann oder ob ein solcher Umgang mit Populismus nicht oberflächlich bleibt. Der Frust und der Hass mancher dieser Leute richtet sich vielleicht nur auf den ersten Blick gegen Ausländer, Muslime und die anderen typischen Feindbilder; eventuell speist er sich eigentlich aus den Folgen einer entfesselten, liberalisierten Wirtschaft. Wenn das stimmt, dann hilft es auch nicht viel, wenn man klarstellt, dass der Ausländeranteil in der Schweiz nicht bei fünfzig Prozent liegt, dann ist die Neutralisierung populistischer Facebook-Kommentare so, als ob man alle paar Meter den platten Autoreifen repariert, anstatt die kaputte Strasse zu sanieren.

Der Informationsgehalt der Diskussion blieb bescheiden. Es fielen Sätze wie: „Wir befinden uns heute in einer schwierigen Lage.“(Steinmeier). Ich frage mich: Gab es je schon mal einen Politiker, der sagte: „Ich finde meinen Job sehr einfach, aber danke trotzdem, dass ihr mir ein Schloss zur Verfügung stellt.‘‘?

Alain Berset kam schliesslich die Aufgabe zu, ein Schlussfazit zu fällen. Da ich mir ohne Papier und Stift nichts notieren konnte, ist mir von diesem Fazit nichts hängengeblieben, und Bersets französischer Akzent kann da nur begrenzt etwas dafür.

Der aus den Garderoben strömende potenzielle politische Nachwuchs wurde noch eine Weile zurückgehalten, bis der Konvoi aus mindestens zehn schwarzen Autos und Transportern – ohne Zweifel bis obenhin voll mit Spezialeinsatzkommandos – den Gefahrenherd verlassen hatte. Zurück blieb die Frage, was von einem Besuch eines Bundespräsidenten (in diesem Fall sogar zwei) übrigbleibt. Es war kühl, keine warme Luft mehr.

Fotocredits: Pierre-Yves Massot