Wenn junge Menschen ihr Studium beginnen, denken sie wohl nicht daran, dass sie einmal in einer beruflichen Einbahnstrasse landen. Doch es kommt vor, dass Arbeitnehmende Jobs ausführen, auf die ihr Unternehmen oder die Gesellschaft verzichten könnte. Eine Diskussion über den Sinn der Arbeit. Was dieses Phänomen ist und wie stark verbreitet es ist, umreisst der Anthropologe und Buchautor Prof. David Graeber in seinem Buch «Bullshitjobs». Darin werden der Sinn der Arbeit im Generellen, aber auch mit der Arbeit verflochtene gesellschaftliche Aspekte thematisiert.
Spectrum hat das Thema mit zwei Fachleuten diskutiert: Mit Frau Dr. phil. Nicola Jacobshagen (N.J.) und Herrn Robin Jolissaint (R.J.), Doktorand im Fach Soziologie.
Bedeutet längere Arbeitszeit auch mehr Leistung?
R.J.: Definitiv nicht. Wir können nicht direkt sagen, dass die Arbeitsleistung äquivalent zur Arbeitszeit ist. Wenn Arbeitnehmende mehr Arbeitszeit brauchen, folgt daraus nicht automatisch bessere Qualität oder mehr Leistung in der Arbeit. Die Arbeitsleistung ist immer individuell. Manche Menschen arbeiten schneller, manche langsamer. Das Endresultat ist das Wichtigste. Ausserdem: Nur weil ein Produkt hergestellt wird, heisst das nicht, dass es auch nützlich ist. Also bedeutet mehr Arbeitszeit nicht gleich mehr Produktivität und Reichtum.
N.J.: Ausserdem arbeiten wir heute deutlich mehr als eigentlich nötig wäre. Die grundsätzliche Idee von David Graeber ist, dass wir aufgrund des technologischen Fortschrittes heute weitaus weniger arbeiten müssten, als wir es tun. Er vertritt dabei die Theorie von Keynes, wonach wir unsere Arbeitszeit auf fünfzehn Stunden pro Woche reduzieren könnten. Davon wird die ganze Theorie der Bullshitjobs abgeleitet.
Aus arbeitspsychologischer Sicht ist es ausserdem wichtig zu beachten, was und wofür wir arbeiten. Soll der Arbeitsmarkt noch bis ins Jahr 2040 so gestaltet sein wie jetzt? Erwerbstätigkeit erfüllt auch psychosoziale Funktionen, die weit über die rein monetären Anreize hinausgehen. Was würden wir alle tun, wenn wir keinen Job mehr hätten?
David Graeber unterscheidet «Bullshitjobs» von sogenannten «Shitjobs». Was halten Sie davon, dass diese «Shitjobs» in der Regel schlecht bezahlt werden, obwohl sie in der Wertschöpfungskette unersetzlich und somit nützlich sind?
R.J.: Nützlichkeit hat einen relativen Wert, der von der Gesellschaft definiert wird. Das, was die Gesellschaft wertschätzt, wird am besten honoriert. Trotzdem bleibt zu beachten, dass das, was die Gesellschaft valorisiert, nicht unbedingt das ist, was sie braucht. Das ist ein wichtiger Unterschied. Graeber schlägt deshalb vor, dass wir uns überlegen, was wir wertschätzen. Obwohl wir vielleicht nicht so viele Manager in Unternehmen benötigen, erachten wir sie als wertvoll. Pflegepersonal und Müllarbeiter schätzen wir zum Beispiel viel weniger. Wir brauchen diese Jobs jedoch unbedingt. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft definiert, wie sehr sie eine Arbeit schätzt. Unabhängig von deren Nützlichkeit.
N.J.: Wir sollten uns dem Unterschied zwischen Bullshitjobs und Shitjobs aber unbedingt bewusst sein. Es gibt Arbeiten, die sind unbeliebt und schwierig auszuführen. Sie bleiben aber unersetzlich, egal, welchen Wert wir ihnen bemessen. Als Beispiel könnte man hier die Altenpflege nennen, die wir dringend brauchen, da unsere Gesellschaft immer älter wird. Diese Jobs bezeichnet Graeber als Shitjobs. Wir können sie nicht auf fünfzehn Stunden pro Woche reduzieren. Da wir uns mittlerweile in der vierten industriellen Revolution befinden, müssen wir darauf achten, dass wir diese Shitjobs besser bezahlen. Wir gehen mit einer schlechten Honorierung sonst das Risiko ein, dass diese Jobs von niemandem mehr erledigt werden wollen.
Die mangelnde Wertschätzung ist also ein gesellschaftliches Problem. Wie könnte man erreichen, dass die «Shitjobs» besser bezahlt werden?
R.J.: Von den Reichen dieser Welt hört man immer wieder, dass wir dafür die Ressourcen nicht hätten und dass wir in einer Ökonomie der Knappheit leben. Das ist falsch. Das Geld ist da, es existiert. Es wird nur vergeudet. Das Geld wird an Leute gegeben, die Berichte schreiben, die keiner liest und an Putzpersonal verteilt, das die Büros der Leute putzt, die diese nutzlosen Berichte schreiben. Wenn wir diese sinnlosen Tätigkeiten eliminieren würden, hätten wir sehr viel Geld für die Menschen übrig, die nützliche Jobs ausüben. Eine ganze Menge Shitsjobs wäre nicht notwendig. Sie existieren bloss, um die Bullshitjobs zu unterstützen.
N.J.: Es ist ausserdem ein unglaublicher emotionaler und kognitiver Aufwand, ein Leben lang einen Shitjob auszuführen. Dagegen sind Bullshitjobs eigentlich gar nicht notwendig. Menschen mit einem hohen Bildungsniveau verbringen ihre Arbeitszeit damit, an überflüssigen Meetings teilzunehmen. Für viele Arbeitnehmende sind deshalb ihre Jobs sinnlos, unzumutbar und nicht legitim.
Wäre es heute schon möglich die «Shitjobs» besser zu bezahlen oder müsste man «Bullshitjobs» reduzieren, damit Geld vorhanden wäre?
N.J.: Erwerbstätigkeit ist generell wichtig. Sie finanziert unser Leben. Wenn wir die einen jetzt arbeitslos machen, damit die anderen besser bezahlt werden, ist das keine Lösung.
R.J.: Natürlich finanziert die Erwerbstätigkeit unser Leben. Aber nichts hindert uns daran, über die Umverteilung des Reichtums umzudenken. Dies gilt umso mehr, wenn wir für den Augenblick akzeptieren, für einen Bullshitjob ein hohes Gehalt zu zahlen. Wörtlich bedeutet dies, dass ein Unternehmen 10’000 Franken verschwendet, um einen Mitarbeitenden zu bezahlen, der nutzlos ist. Wenn diese Person nichts tut, warum bieten Sie ihr dann nicht 5’000 an, damit sie zu Hause bleiben und ein eigenes Projekt starten kann, und nutzen die restlichen 5’000, um das Gehalt einer Person zu erhöhen, die einen Shitjob hat? Rein logisch betrachtet, lässt sich dieses Argument nicht widerlegen. Darüber hinaus stimme ich Nicolas Unterscheidung zwischen Shitjobs und Bullshitjobs und der Tatsache, dass erstere wichtig sind, sicherlich zu. Graeber argumentiert aber auch, dass viele Shitjobs nur existieren, um Bullshitjobs zu unterstützen. Wenn wir mit den letzteren aufhören, wird ein großer Teil der Scheissarbeit nicht mehr nötig sein, zum Wohle aller.
Wir haben uns jetzt viel über den Unterschied zwischen «Bullshitsjobs» und «Shitjobs» ausgetauscht. Wie, denken Sie, wirkt sich der Sinn einer Arbeit auf die Motivation der Arbeitnehmenden aus? Wie wirkt es sich auf die Gesellschaft aus, dass so viele Menschen keinen Sinn in ihrer Arbeit erkennen können? (D. G. spricht von einem weitreichenden moralischen und geistigen Schaden, von einer «Narbe quer über unsere kollektive Seele»).
N.J.: Die Sinnhaftigkeit der Arbeit ist eine der fünf wichtigsten psychosoziale Funktionen der Erwerbsarbeit. Zweifel an der Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit ist ein wesentlicher Stressfaktor. Wir haben das Erledigen von unnötigen und unzumutbaren Aufgaben untersucht, als illegitime Aufgaben zusammengefasst und ein neues Stressmodell entwickelt: das «Stress-as-Offence-to-Self»-Modell, kurz SOS.
Es findet ein psychologischer Regelbruch statt, wenn Menschen Dinge machen müssen, die nicht ihre Aufgaben sind. Zum Beispiel das Erledigen von Aufgaben, die eigentlich den Vorgesetzten der Arbeitnehmenden zufallen. Dadurch fühlen sie sich überflüssig, sozusagen als Platzhalter.
R.J.: Als Soziologe kann ich mehr über das Kollektiv reden als über die individuelle Verletzung. In der Schule wird uns beigebracht, dass wir einen nützlichen Beruf erlernen müssen und uns viele Kompetenzen aneignen sollen. Auf der anderen Seite haben wir die populäre Kultur, die uns drängt, uns selbst zu verwirklichen. Wenn wir dann anfangen zu arbeiten, stellen wir fest, dass wir weder die Theorie, die wir in der Schule gelernt haben ins Praktische umsetzen können, noch uns selbst verwirklichen können. Diese zwei Imperative, die nicht realisierbar sind, hinterlassen in der Tat eine tiefe Verletzung des Kollektivs.
N.J.: Leider wird in unserer Gesellschaft das Individuum auf Basis seines Berufs bewertet. Dieser fungiert oft als Statussymbol. Die Arbeit selbst wird in ihrem Kern und Nutzen zu wenig gewürdigt. Fünfzig Prozent aller Männer in den USA, die nur ein Highschool-Abschluss haben, arbeite in einem Beruf, der daraus besteht, irgendetwas von A nach B zu bewegen. Zum Beispiel als Taxifahrer oder Gabelstapler. Eigentlich sind wir aber technologisch so weit, dass diese Arbeiten automatisiert ausgeführt werden könnten. Das führt bezüglich der Sinnhaftigkeit der Arbeit zu grossen Kontroversen: Die Digitalisierung führt dazu, dass viele Menschen ihren Job verlieren, aber die Bullshitjobs am Leben erhalten werden.
R.J.: Ich bin eher der Meinung, dass diese Shitjobs nicht digitalisiert, sondern mechanisiert werden. Die Bullshitjobs, vor allem in den Büros, könnten jedoch mit künstlicher Intelligenz digitalisiert werden. Doch man will nicht massenweise Jobs auflösen. Die Politik ist sich über die Aufrechterhaltung dieser Jobs auf alle Fälle einig.
Welche kognitiven Dissonanzen können Sie bei den Arbeitnehmenden, die solche «Bullshitsjobs» ausführen, feststellen?
N.J.: Seit den letzten zwanzig Jahren versucht man, den Arbeitnehmenden den Sinn ihrer sinnlosen Tätigkeiten zu erklären. Die Sinnhaftigkeit wird im weiteren Umfeld gesucht, wie zum Beispiel im Nutzen für die Familie. Wenn wir sinnlos agieren und nicht verstehen, warum wir etwas tun, dann erfüllt uns diese Tätigkeit nicht. Hinzu kommt, dass wir in den reichen Industriestaaten Arbeitskräfte importieren und obere Gesellschaftsschichten im Laufe der Zeit deren Arbeit nur noch überwachen. Aber eigentlich wissen wir, dass wir diese Shitjobs selbst ausführen sollten.
R.J.: David Graeber versucht gegen den Mythos des Kapitalismus anzugehen, dass die Arbeit der Produktivität dient. Der wahre Grund, warum wir arbeiten, ist nicht das kapitalistische System, sondern die Pflege von Beziehungen. Mit der Digitalisierung kann die körperliche Arbeit ersetzt werden, aber nicht der soziale Kontakt. Graeber möchte, dass die Gesellschaft dies versteht und dass sich die Arbeitswelt vermehrt auf dieses Miteinander konzentriert. Er will, dass alle Bullshitjobs, die keinen sozialen Kontakt beinhalten, aufgelöst und digitalisiert werden. Die Jobs, die er Shitjobs nennt, will er nicht auflösen, sondern wertvoller erscheinen lassen.
Wer ist dafür verantwortlich, dass das gesellschaftliche Ansehen der «Shitjobs» gesteigert wird?
R.J.: Ich denke, dass Schulen die Verantwortung haben, solche Jobs attraktiver darzustellen. Man sollte aufhören, die Studierenden zu akademischen Höchstleistungen zu pushen, dort wo man sie nicht braucht. Aber nicht nur die Schulen, sondern auch die Politik ist gefordert. Die Gesellschaft an sich muss diese Umstände verändern.
N.J.: wir müssen den Unterschied machen zwischen Ausbildung, Erziehung und dem, was im Berufsleben passiert. Wir haben in der Erziehung und Ausbildung Verantwortung, junge Menschen dazu zu bringen, ihren Interessen nachzugehen. Hier sind wir beim klassischen Sozialisations- und Selektionsproblem. Man sollte den Menschen die Wahl lassen, womit sie sich beschäftigen möchten.
R.J.: Jede Person
Aufnahme : Regina KŸhnewürde trotz einer fünfzehnstündigen Beschäftigung pro Woche noch ausserhalb ihrer Arbeitszeit arbeiten. Die Menschen würden auch ausserhalb ihres Arbeitsplatzes soziale Kontakte knüpfen können. Sie wären viel glücklicher in dieser selbst ausgewählten Arbeit als auf ihrem Arbeitsplatz, wo sie zum Beispiel eine Maschine überwachen sollen. Es ist die Verantwortung der Gesellschaft, zu erkennen, dass es ausserhalb der Arbeitsplätze eine andere Art von Arbeit gibt, eine möglicherweise wertvollere.
Robin Jolissaint ist Diplom-Assistent in der Abteilung für Sozialwissenschaften an der Universität Freiburg und schreibt derzeit an seiner Doktorarbeit über die symbolischen Dimensionen von Produktion und Arbeit. Nach seinen Studien in Religionswissenschaften, Sozialanthropologie und politischer Soziologie hatte er Gelegenheit, Prof. David Graeber bei seinen Konferenzen zu assistieren.
Dr. phil. Nicola Jacobshagen ist Lehrbeauftragte an den Universitäten St. Gallen, Freiburg und Bern sowie bei der Fernuniversität Schweiz. Nach ihrem Doktor in Philosophie studierte sie an der Universität Freiburg Psychologie und Anglistik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Wertschätzung und Selbstwertbedrohung, Stress am Arbeitsplatz und im Management, sowie New Work und Digitalisierung.