Laktoseintoleranz, die Unverträglichkeit von tierischen Milchprodukten, ist mittlerweile fast allen einen Begriff. Nicht so die Oligosaccharid-Unverträglichkeit. Obwohl dieser Lebensmittelstoff in immer wie beliebteren pflanzlichen Alternativen vorkommt, ist darüber noch wenig bekannt. Ein Blick in die aktuelle Forschung.
Immer öfter werden pflanzenbasierte Alternativen gegenüber der herkömmlichen Kuhmilch bevorzugt. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das nicht immer so war. Die Milch spielte vor einigen Jahrhunderten eine noch weitaus bedeutendere Rolle, unter anderem aufgrund der limitierten Auswahl an Lebensmitteln. Denn: Die damaligen Bauern bauten in der Regel nur kohlenhydratreiches Getreide wie Hafer oder Buchweizen an. Wertvolle Proteine und Fette aus der Milch ergänzten die ansonsten einseitige Ernährung. «Heute kann man das natürlich anders zu sich nehmen, aber früher gab es das nicht», so Daniel Wegmann, Professor für Bioinformatik an der Universität Freiburg. Überraschend ist: Die meisten Menschen waren noch vor 3000 Jahren laktoseintolerant. Das fand Wegmann bei seiner Beteiligung am internationalen Forschungsprojekt zur Tollense-Schlacht in Norddeutschland heraus. «Per se ist dieser Befund nicht weltbewegend. Heute verträgt die norddeutsche Bevölkerung zu 90 Prozent Laktose, früher waren das aber nur sieben Prozent. Über so eine kurze Zeit hinweg ist das ein enormer Unterschied.»
Was ist also passiert?
Die Genmutation muss später eingetreten sein, als bislang vermutet. Denn die ansässigen Bewohner*innen konsumierten schon vor 10’000 Jahren Milchprodukte in bedeutenden Mengen und dennoch waren die meisten laktoseintolerant. Wegmann erklärt das folgendermassen: «Man muss sich eine Situation vorstellen, in der es ein entscheidender Lebensvorteil war, Milch zu konsumieren. Dazu gehört zum Beispiel eine Pandemie, grosse Hungersnot oder Missernte, wo die Lebensmittelversorgung sehr begrenzt und der Gesundheitszustand der Menschen nicht gut waren. Protein- und Fettzufuhr aus der Milch können in solchen Extremsituationen darüber entscheiden, ob man überlebt oder nicht.»
Ein weiterer Erklärungsansatz ist aber auch, dass die Milch ein steriles Getränk ist, da sie keine Krankheitserreger enthält. Gerade bei kontaminiertem Wasser zu Zeiten der Cholera kann der Zugang zu Milch ebenso für das Überleben entscheidend sein. «Heute – in einer gut versorgten Gesellschaft – stirbt niemand mehr daran, dass er oder sie Milch trinkt. Man hat höchstens Bauchweh oder muss öfters auf das WC», resümiert der Bioinformatiker.
Toilettengang auch bei Oligosacchariden
Ebenfalls stirbt niemand an den sogenannten Oligosacchariden, einem anderen, aber weitaus unbekannteren Bestandteil pflanzenbasierter Alternativen wie der Sojamilch. Oligosaccharide sind Mehrfachzucker. Wie bei der Laktose sind bestimmte fehlende Enzyme im Verdauungssystem zur Aufspaltung dieser Zuckerverbindungen Auslöser von Beschwerden.
«Typische Symptome gibt es aber nicht», so die selbstständige Ernährungsberaterin Diana Studerus. Der Mangel könne sich auf unterschiedlichste Art und Weise äussern – von Stuhlveränderungen, über Flatulenz bis hin zu seltsamem Geschmack im Mund. Bemerkenswert ist: Niemand verfügt über diese Enzyme – auch ‘gesunde’ Menschen nicht. Sie sind für alle nur bedingt resorbierbar. «Nicht umsonst sagen wir ‘Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen’», erzählt Studerus. Die Mehrfachzucker kommen aber nicht nur in Hülsenfrüchten wie der Sojabohne vor, sondern auch in Getreide oder Zwiebeln. Diese führen in grösseren Mengen bei jedem Menschen zu Beschwerden. Den Unterschied macht schlussendlich die individuelle Darmflora. Denn die Aufspaltung der Zuckerverbindungen ist nur der Zipfel des Eisberges. Ob und wie Laktose und Oligosaccharide fermentiert werden, ist abhängig vom eigenen Mikrobiom. Dieses verursacht dann unterschiedliche Beschwerden – oder eben überhaupt keine. Es handelt sich hier aber um keine Neuzeiterscheinung. «Die fehlenden Enzyme zur Aufspaltung dieses Lebensmittelstoffes gehören zum Menschsein. Irgendwann war dieser Umstand für uns evolutionär vorteilhaft», meint Studerus.
Wie erfolgt die Diagnosestellung?
Im Gegensatz zum etablierten Laktose-Gentest gibt es für die «Oligos» noch keinen validierten Atemtest und somit keine eindeutige Diagnosestellung. Das stellt für Patient*innen eine immense Herausforderung dar. «Diese Art von Unverträglichkeit ist am herausforderndsten, weil es so viele Lebensmittel betrifft und es keinen roten Faden wie bei der Milch gibt», klärt die Ernährungsberaterin auf. Nach einer Ernährungsanamnese kommt es daher meistens zu einer standardisierten Ausschlussdiät: Man lässt zu Beginn gewisse Lebensmittelgruppen weg, führt sie danach in moderaten Mengen wieder ein und schaut, wie viel man davon verträgt. «Es kommt sehr auf die Menge an», betont Studerus. Doch Grund zur Panik gibt es nicht: «Diese Unverträglichkeit ist nicht gefährlich. Es entwickelt sich daraus keine bedrohliche Krankheit.» Im Gegenteil: Wer eine Zeit lang auf oligosaccharidreiche Lebensmittel verzichtet, kann bei einer langsamen Einführung eine steigende Toleranz verzeichnen. Denn die Darmflora hat sich in der Zwischenzeit verändert. So zumindest der heutige Stand der Forschung.
Wohin geht die Forschung von morgen?
Wie bereits für die Laktoseunverträglichkeit arbeiten Wissenschaftler*innen derzeit an einer systemischen Enzymtherapie für Oligosaccharid-Patienten. Im Lebensmittelbereich entwickelt man zudem Produkte, die oligosaccharidarm sind. Dass die Nachfrage nach solchen Produkten vorhanden wäre, stellt Studerus in ihrer eigenen Praxis fest: «Ich habe etwa dreimal so viele Patient*innen mit einer Oligosaccharid- als mit einer Laktose-Unverträglichkeit.» Das kann so erklärt werden, dass es mittlerweile viele Informationen zur Laktose gibt und diese Ernährungsumstellung einfacher umzusetzen ist. «Bei Oligosacchariden kommen aber viele ins Schleudern und brauchen Hilfe», so Studerus. Offizielle Zahlen zur Oligosaccharid-Unverträglichkeit gibt es noch nicht. Die meisten Laktose-Toleranten leben übrigens in europäischen und westafrikanischen Gesellschaften. Die Toleranzschwelle ist aber vielerorts in den letzten Jahren zurückgegangen, so auch in der Schweiz. Aufgrund der steigenden Immigration aus Ländern mit einer tiefen Laktosetoleranz kommt es zu einer Vermischung des laktoseintoleranten mit dem laktosetoleranten Erbgutes innerhalb der Gesellschaft.