Carole Jeanneret ist Restauratorin im Freiburger Franziskanerkloster. Täglich pflegt, restauriert und säubert sie mittelalterliche Codices, damit nicht einmal der Dreck der Jahrhunderte verloren geht.
«Manchmal erkennt man in einem Tintenfleck einen Fingerabdruck», sagt Jeanneret. «In solchen Momenten muss ich mir Zeit nehmen, um zu staunen.» Jeanneret liest nicht nur Buchstaben, sondern auch das Unscheinbare. Tintenkleckse, Korrekturen zwischen den Zeilen, feine Risse in den Seiten, den individuellen Stil der Schreibenden. Es sind Hinweise auf die Geschichte eines Buches und die Menschen, die es lasen. «Jahrhunderte später lesen wir all das und die Schreiber waren sich dessen nicht bewusst», sagt Jeanneret.
Konzentration und Faszination
Während den verschiedenen Arbeitsprozessen müsse sie ihre Faszination aber ausblenden, sagt Jeanneret. Allzu viel Zeit für Tagträumereien bleibt nicht. Ihr Beruf erfordert Konzentration und eine ruhige Hand. Nicht immer gingen Restaurator*innen mit dieser Sorgfalt an die Arbeit. Wenn Jeanneret durch die Codices blättert, fallen ihr solche Fehler auf. «Ah, voila, schau hier, bei dieser Initiale.»
Unter einer Initiale versteht Jeanneret einen aufwendig gestalteten Buchstaben zu Beginn eines Kapitels. In diesem Fall handelt es sich um eine «bewohnte Initiale». Die Heilige Maria ist auf blauem Grund im Buchstaben zu erkennen. Derartige Darstellungen waren aufwendig und äusserst kostspielig. Über zwei Drittel der Seite setzt sich aber rundherum ein grosser Fleck vom übrigen Pergament ab. Ein Fettfleck? «Nein das war ein Versuch, die Seite zu restaurieren», sagt Jeanneret. Heute verfolgen Jeanneret und ihre Kolleg*innen einen grundverschiedenen Ansatz.
Spuren lesen und erhalten
Eingriffe sind nur vorgesehen, wenn der Erhalt des Codices gefährdet ist. Etwa durch einen zerfallenden Buchrücken. Kritzeleien späterer Jahrhunderte bleiben hingegen unbehelligt. «Schliesslich gehört auch das zur Geschichte dieser Bücher», sagt Jeanneret. Sie beschäftigt sich mit unterschiedlichen Materialen aus unterschiedlichen Zeiten. 173 mittelalterliche Manuskripte und 143 Inkunabeln aus der frühen Neuzeit lagern in der Klosterbibliothek. Inkunabeln sind Frühdrucke, die ebenfalls handschriftliche Verzierungen enthalten. «Bei den Inkunabeln muss ich oft kleine Risse mit Japanpapier flicken», sagt Jeanneret. Das Material eignet sich dazu ideal. Jahrhunderte altes Papier reagiert extrem empfindlich auf Säure.
«Sicher, auch Inkunabeln sind schön, alles ist einheitlich formatiert, alles sehr gerade, ein einheitliches Erscheinungsbild.» Doch am liebsten sind Jeanneret die handschriftlichen Codices aus dem Mittelalter. Sie lagern hinter einer zentnerschweren Panzertür in einem kühlen Raum. Hier gerät Jeanneret ins Schwärmen. Fein säuberlich sortiert stehen und liegen mittelalterliche Bücher in allen Formaten. Der Dreck, der sich im Laufe der Zeit sammelte, wird ebenfalls aufbewahrt. «Vielleicht profitiert die Forschung irgendwann davon», sagt Jeanneret.
Verborgene Schätze
Je grösser die Bücher, desto reicher verziert sind ihre Seiten. Messbücher, lateinische Bibelübersetzungen, Antiphonarien mit gregorianischen Gesängen. Melodien, die bis heute gesungen werden. Für Jeanneret verbirgt sich der eigentliche Schatz jedoch auf den Innenseiten der mit Leder und Metall beschlagenen Buchdeckel. Hier haben die Mönche ältere Handschriften übereinander geklebt. Eine Collage. Für Forscher*innen eine Fundgrube.
Jeder Pergamentfetzen wird untersucht und unter UV-Licht treten manchmal verlorengeglaubte Texte zum Vorschein. Jeanneret ist in ihrem Element. «Das ist ein offenes Fenster in die Geschichte. Jede kleine Notiz, jedes Fragment. Beinahe lebendig.» Sie holt Buch für Buch aus dem Regal hervor. Zuletzt ein Exemplar, nicht grösser als eine Handfläche. Hunderte Seiten Pergament, winzige Buchstaben mit geduldiger Hand geschrieben. Pergament war teuer, der Platz prekär. Hier, hinter der Panzertür der Klosterbibliothek, haben Bücher beinahe sakralen Charakter.