Die Massakrierung von 16 geliebten Familienmitgliedern, die mehrfache Vergewaltigung von zwei befreundeten Mädchen, das Zurückbleiben eines verletzten Weggefährten inmitten der lebensfeindlichen Wüste, das Erschiessen eines boshaften, vom Pech verfolgten Jungen. Dies ist eine unvollständige (!) Auflistung der Leiden, welche die Protagonisten des Romans American Dirt erfahren müssen. Nicht unbegründet scheint daher der Vorwurf einiger Literaturkritiker, bei dem 2020 erschienenen Buch der US-amerikanischen Autorin Jeanine Cummins handle es sich um einen «Traumaporno». Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Gewalt und das Leid im Roman inhaltlich nötig oder zum Spass ausgeschmückt sind.

Dabei war die Absicht der Autorin so gut. In einem Interview erklärte sie, den Fokus ihres Romans nicht wie üblich auf  Drogendealer, sondern auf die Opfer derer Gewaltinstitutionen in Lateinamerika setzen zu wollen. Dazu habe sie auch bewusst eine weibliche Hauptfigur gewählt. Beim Schreibstil scheint ihr das auch gelungen zu sein. Cummins Prosa ist nämlich sanft, einfühlsam und tiefgründig. Besonders über ihre Rolle als Mutter in dieser Krisenzeit sinniert die Protagonistin Lydia wiederholt im Roman, beispielsweise als sie erstaunt über den Überlebenswillen ihres Sohnes Luca zu einer wichtigen Erkenntnis kommt: «For mothers, the question is immaterial anyway. Her survival is a matter of instinct rather than desire.»

Allerdings geht es bei der Kontroverse um diesen Roman nicht darum, was oder wie es erzählt wird. Vielmehr interessiert, wer die Autorin ist. Dass eine US-Amerikanerin einen Roman über das Leiden mexikanischer Immigranten schreibt und damit sogar noch viel Geld erhält und Erfolg erlangt, scheint inakzeptabel. Besonders lateinamerikanische Autoren beschweren sich und fordern mehr Repräsentation und finanzielle Unterstützung von Verlagen. Ironischerweise bestätigt die Kontroverse um den Roman genau die These, die durch dessen Titel impliziert wird, nämlich dass man nicht mehr von einem «American dream», sondern eher von «American dirt» sprechen muss. Denn die USA, die einst als Land der unbegrenzten Möglichkeiten galten, sind heutzutage eher als Schauplatz für politische und gesellschaftliche Schlammschlachten bekannt. Ob gefeiert oder gehasst, der Roman kann uns einiges über das heutige Amerika lehren und ist daher absolut lesenswert.

 

Text: Sophie Sele


American Dirt

Autorin: Jeanine Cummins

Verlag: Tinder Press

Jahr: 2020

Seiten: 454