Fragen rund um die Themen Geschlecht und Sexualität können unsere Psyche belasten. Doch in der Psychotherapie bleiben sie häufig ein Randthema.

Bis 1992 galt «Homosexualität» laut dem ICD (International Classification of Diseases) als Krankheit. Einige der älteren Patient*innen, die bei der Psychologin Dr. Nathalie Meuwly in Therapie gehen, waren aufgrund ihrer Sexualität in der Psychiatrie. Deshalb besteht für Dr. Meuwly in der Psychologie bis heute eine historische Bringschuld. Es müsse eine Anstrengung unternommen werden, um queere Personen fachgerecht zu betreuen: «Wir müssen klar machen, dass die Zeit der Diskriminierung vorbei ist.»

Verschiedene Brillen

Neben ihrer Forschung und Lehrtätigkeit an der Universität Freiburg führt Dr. Meuwly eine Praxis für Psychotherapie. Etwa die Hälfte ihrer Klient*innen sind Mitglieder der LGBTQ+ Community. Für diese Klient*innen kann es erleichternd sein, dass Dr. Meuwly sich nicht nur in ihrer Forschung mit Sexualität und Geschlechterfragen beschäftigt hat, sondern auch selbst queer ist: «Sie wissen dann: da ist ein Mensch, der selbst ein Coming-Out hatte.»

Dabei ist das «Coming-Out» – also das Bekanntmachen der eigenen Sexualität oder Geschlechtsidentität – längst nicht das Einzige, das queere Personen psychisch belasten kann. Trotz wachsender Akzeptanz in der Gesellschaft erleben viele von ihnen Diskriminierung, Scham, Anfeindungen oder körperliche Gewalt. «Als Therapeut*in muss man versuchen, die Erfahrung der Klient*innen durch ihre Brille zu sehen, nicht durch die der Mehrheitsgesellschaft», betont Dr. Meuwly.

 

«Ich wusste, meine Geschlechtsidentität ist der Grund, weshalb ich hier auf diesem Stuhl sitze.»

Mangelndes Angebot

Noch mangelt es in der Psychotherapie an Angeboten für queere Personen. In verschiedenen Schweizer Städten gibt es das Projekt «Checkpoint» der Aids-Hilfe Schweiz. Es ist eine Anlaufstelle für sexuelle und psychische Gesundheit, legt den Schwerpunkt jedoch auf die Bekämpfung von sexuell übertragbaren Krankheiten. Die Webseite «Du-bist-du» bietet online Beratungen, Podcasts und Informationen zu Sexualität, Geschlechtsidentität und psychischer Gesundheit, aber in der herkömmlichen Psychotherapie fehlt die Sensibilisierung. Dr. Meuwly  unterrichtet seit 2016 an der Universität Freiburg Psychologiekurse zum Thema «sexuelle Orientierung». Diese sind aber kein fixer Bestandteil des Lehrplans.

Viele Klient*innen müssen ihre Therapeut*innen selbst aufklären. So erging es auch Sam. Sam kommt aus dem Thurgau und studiert seit letztem Jahr in Freiburg. Pronomen verwendet Sam auf Deutsch keine: «Da bin ich noch in der Findungsphase.»

Schon im Gymnasium besuchte Sam verschiedene Therapien und obwohl Sam von Anfang an über Geschlechtsidentität sprechen wollte, stellte sich schnell heraus, dass die Therapeut*innen kaum wussten, welche Fragen sie stellen sollten. Sie konnten die Dringlichkeit nicht erkennen. Sam erklärt: «Ich hätte jemanden gebraucht, der gesagt hätte: Da schauen wir hin! Ich wusste, meine Geschlechtsidentität ist der Grund, weshalb ich hier auf diesem Stuhl sitze.»

Stress oder Ressource

Seit ein paar Monaten hat Sam nun eine neue Therapeutin, die sich mit queeren Themen auskennt. Diese habe von Anfang an die richtigen Fragen gestellt und Sam ganzheitlich behandelt.

Sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität kann Stress oder Scham auslösen und die Reaktionen der Gesellschaft können belastend sein. Gleichzeitig können sie als Ressource dienen. Wer sich mit diesen Themen beschäftigt, setzt sich mit der eigenen Identität, Rollenbildern und Erwartungen auseinander. Das Loslassen gewisser Normen wirkt befreiend. Dr. Meuwly erklärt, dass viele Klient*innen aus diesen Erfahrungen Kraft schöpfen für andere Schwierigkeiten im Leben. Sie lernen, bei wem sie soziale Unterstützung finden und was sie tun können, um sich besser zu fühlen. Gerade wenn das «Coming-Out» als überwindbare Hürde empfunden wird, kann dies das Selbstbewusstsein stärken: «Wer etwas Schwieriges geschafft hat, kann stolz auf sich sein.»

 

Text und Illustration: Alyna Reading