Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm hielt am 6. April eine Lesung an der Universität Freiburg. Mit Spectrum sprach er über seine Schriftstellerkarriere.

 

Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen? Wovon handelte Ihre erste Geschichte?

Ich war keiner dieser Autoren, die mit zehn Jahren ihre ersten Bücher geschrieben hatten. So ungefähr mit zwanzig habe ich entschieden, dass ich schreiben will. Ich habe vorher schon gern geschrieben, auch in der Schule. Es war jedoch nie so, dass ich dachte, ich schreibe jetzt ein Buch.

Mein erstes Buch spielt in Soglio, einem Bergdorf im Bergell. Es war schon eine Beziehungsgeschichte, wie ich sie heute auch schreibe, aber es war viel zu durchgeplant, viel zu gewollt. Es war auf jeden Fall gar nicht gut.

 

An welchem Werk hat Ihnen die Arbeit am meisten Freude bereitet? Warum?

Im Grunde ist es von Buch zu Buch nicht so verschieden. Beim letzten hatte ich sehr grossen Spass, also das Buch, das ich gerade geschrieben habe – das werde ich jetzt am Wochenende lektorieren –, und zwar weil die Hauptfigur, die Erzählerin einfach eine sehr lustige Person ist. Das hat sehr viel Spass gemacht. Ich wollte immer einmal ein lustiges Buch schreiben und ich glaube, jetzt ist es mir zum ersten Mal gelungen, obwohl gewisse Leute sagen, es sei überhaupt nicht lustig, aber ich finde es ziemlich lustig.

 

Sie sagen selbst, in Ihren Werken gehe es um zwischenmenschliche Beziehungen. Spiegeln die Beziehungen in Ihren Büchern Ihre eigenen Beziehungen wieder?

Nicht in dem Sinn, dass ich meine eigene Geschichte erzählen will. Das hat mich nie interessiert und da bin auch ein zu privater Mensch. Ich habe kein Interesse daran, meine Privataffären in die Öffentlichkeit zu tragen. Natürlich, wenn ich nie verliebt gewesen wäre, würde ich nicht über verliebte Leute schreiben. Ich schreibe oft über kreative Menschen, die in kreativen Berufen arbeiten: Architekt*innen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen. Natürlich hat das damit zu tun, dass ich einfach diese Berufe kenne und mich gut in das hineinfühlen kann. Ich habe so ein Spektrum von Figuren, die ich schreiben kann, aber ich habe nie die Absicht gehabt, irgendwas über mich zu veröffentlichen.

 

Das kann ich auch nachvollziehen, weil es ja in der Literatur darum geht, mehrere Leben zu Leben und immer wieder in neue Geschichten einzutauchen.

Ich finde, das ist der Spass daran, aber es gibt auch Autoren und Autorinnen, die sehr privat arbeiten, die praktisch nur ihr eigenes Leben erzählen. Das ist legitim, aber es ist nicht mein Ding.

 

Das Ende ihres berühmten und teils in der Schule Pflichtlektüre gewordenen Debütromans «Agnes» ist relativ offen. Wissen Sie selbst, warum?

Wenn meine Enden offen sind – und das sind sie fast immer –, dann weiss ich auch nicht mehr. Es ist nicht so, dass ich das Ende weiss, es aber nicht verrate. Das wäre fies, aber ich mache es nicht. Es ist wirklich so. Wenn es nicht entschieden ist im Buch, dann ist es auch in meinem Kopf nicht entschieden. Ich meine, ich kann natürlich meine Bücher interpretieren, aber die Interpretation ändert sich über die Jahre. Ich würde heute Agnes anders interpretieren als ich es damals interpretiert hätte. Ich glaube, damals habe ich gedacht, sie ist tot. Heute denke ich, sie ist eher nicht tot. Aber das steht nicht im Buch, das ist meine persönliche Meinung als Leser und nicht als Autor. Darum habe ich es auch immer in Schulen verweigert, eine Antwort darauf zu geben, was wirklich passiert ist, weil ich gedacht habe, wenn ich das sage, dann kriegt das so ein Gewicht, weil sie dann sagen: «Der Autor hat es gesagt». Das will ich nicht. Man sollte sich nicht täuschen und glauben, es gäbe eine Wirklichkeit. Das Buch ist das Buch, mehr ist da nicht. Ausser wenn es autobiographisch ist, dann kann man vielleicht da Bezüge herstellen.

 

«Agnes» ist 1998 erschienen. Wieso sind Ihre Romane noch relevant?

Naja, ob sie es sind… Ich hoffe schon, dass Literatur hoffentlich eine längere Halbwertszeit hat als ein Zeitungsartikel. Im Grunde genommen muss das immer das Publikum entscheiden, ob sie noch relevant sind. Was mir erst aufgegangen ist, als ich mit Agnes in Schulen war, ist dass es im Grunde genommen dieses Bildnis-Thema heute noch viel stärker ist als es damals war, als ich es geschrieben habe, dieses Sich-ein-Bild-machen von den anderen, von sich selbst. Wir haben damals oft gesagt, das ist im Grunde fast ein Facebook-Roman, es geht darum, wie wir Bilder von uns machen und diese Bilder wiederum eine Wirkung auf uns haben und uns auch schaden können. Dadurch ist es vielleicht noch relevant, es spricht Leute noch an. Und Liebesgeschichten werden natürlich sowieso nicht alt. Wir können ja noch Liebesgeschichten aus ich weiss nicht wie langer Zeit lesen und verstehen die immer noch. Es sind Gefühle, die die Menschen vermutlich schon lange haben und hoffentlich noch lange.

 

Filmposter der Verfilmung von „Agnes“ (2016)

 

Sie haben bis 2004 Theaterstücke geschrieben, danach jedoch nicht mehr. Weshalb?

Ich habe gemerkt, dass diese Stücke, die mich interessieren, die mich zu schreiben interessieren, nicht Stücke sind, die heute gefragt sind. Also ganz banal: der Markt. Die Regisseure wollen heute lieber Material als Stücke, die wollen Stoffe, mit denen sie umgehen können, in die sie eingreifen können. Das ist nicht meine Art zu schreiben. Ich komme eher so aus der Schule dessen, was man in der USA ein well-made play nennt, ein gut gebautes Stück, das dann aber im Grunde auf der Bühne genauso gespielt werden muss, wie es auf der Seite steht. Das mögen deutsche Regisseure nicht. Auch in Zürich wurden sie schon aufgeführt, aber selten nachgespielt. Oder vielleicht ein Mal. Ich schreibe sowieso lieber Prosa und dann hatte ich kaum einen Grund. Wenn ich keinen grossen Erfolg damit habe und das auch nicht wahnsinnig gern mache, wäre ich ja blöd. Es kann schon sein, dass ich irgendwann wieder Stücke schreibe. Ich habe es auch lange nicht gemacht. Dieser Umstieg vom Prosaschreiben zum Theaterschreiben ist schon ein Umstieg, ich kann nicht einfach sagen: «Heute schreib ich Theater, morgen schreib ich Prosa.»

 

Wo schreiben Sie am liebsten?

Das ist unterschiedlich, ich schreibe relativ oft zuhause. Ich habe ein Büro, wo ich für mich bin. Manchmal gehe ich irgendwohin, um zu schreiben. Ich habe auch eine kleine Wohnung am Untersee beim Bodensee, wo ich immer mal wieder bin. Ich schreibe immer mal wieder auch im Zug, kann auch auf Reisen schreiben. Ich bin nicht so schwierig, was den Ort angeht.

 

Sie haben ja schon einige Lesereisen unternommen: nach Russland, China, Mexiko, Kolumbien, in den Iran und die Arabischen Emirate. Im Mai planen Sie noch eine Lesereise in die Ukraine, wie Sie der NZZ gegenüber bestätigt haben. Wie genau kann man sich solch eine Lesereise vorstellen?

Vermutlich wird die Reise in die Ukraine nicht stattfinden… Zum einen ist es natürlich wie  bei der Musik. Die gibt es auch auf dem Blatt, die kann man lesen, aber eigentlich will Musik gespielt werden. Im Grunde ist Literatur am Schönsten, wenn sie gelesen wird, sie ist ja Sprache und Sprache wird gesprochen. Und von daher mag ich es eigentlich, laut zu lesen. Die Lesereisen sind aber ganz unterschiedlich. Im deutschen Sprachraum gibt es wirklich diese klassische «Wasserglaslesung», so nennt man das wohl: Glas Wasser, ein Autor, Tisch und dann lese ich aus einem Buch vor. Nachher gibt es vielleicht noch Fragen. Im Ausland ist das unterschiedlich. Da gibt es Orte, wo man eher Gespräche führt und das Lesen eher Nebensache ist. Oft muss es ja auch übersetzt werden, was das Ganze ein wenig umständlicher macht. Es gibt alles Mögliche da, es gibt Orte, wo man dann nur eine Signierstunde macht.

 

Wenn Sie jetzt zum Beispiel nach Russland oder China reisen, lesen Sie dann Ihre Texte auf Englisch?

Nein, das verweigere ich eigentlich, denn ich kann ziemlich gut Englisch, aber einen Text auf Englisch zu lesen, ist verdammt schwer. Man macht ihn nicht besser, sondern eher schlechter. Von daher versuche ich dann immer, dass jemand anderer das liest. Und dann auch nicht  Englisch, sondern gleich Russisch oder Chinesisch. Ich war jetzt gerade in der Slowakei vor drei Wochen, da habe ich ein kurzes Stück auf Deutsch gelesen, damit die Leute hören, wie das klingt, und danach hat das jemand auf Slowakisch gelesen.

 

Ihre Bücher wurden ja auch in 39 Sprachen übersetzt, was eine beträchtliche Anzahl darstellt.

Ja, und da gibt es dann die Sprachen, die mir vollkommen fremd sind. Ich verstehe kein Wort. Dem Slowakischen habe ich in der Lesung erstaunlicherweise folgen können, weil dann doch immer gewisse Fremdworte und Namen wieder auftauchen und dann weiss man ungefähr, wo man im Text ist.

 

Sie haben auch ein Buch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, wenn ich richtig informiert bin. Wie empfinden sie die literarischen Übersetzungsprozesse?

Es war ein Kinderbuch, ein Bilderbuch mit wenig Text. Darum wurde ich gebeten und deshalb habe ich es gemacht. Eine wirklich längere Übersetzung habe ich mal vom «Kleinen Prinzen» gemacht, den ich ins Deutsche übersetzt hab. Das war so die einzige grössere Übersetzungsarbeit. Ich habe da beim Übersetzen einen viel grösseren Respekt vom Beruf gekriegt als ich vorher schon hatte. Ich kenne ja viele Übersetzer*innen, weil ich mit vielen in Kontakt bin. Doch schon davor war mir bewusst, dass das ein sehr ehrenhafter und schwieriger Beruf ist.

 

Im Herbst 2021 hat Spectrum ein Interview mit der Ostschweizer Rapperin Jessica Jurassica geführt. Diese hat Sie als ihren «selbstgewählten Antagonisten im Literaturbetrieb» bezeichnet, weil Sie «eine Metapher für das Patriarchat» seien. Was denken Sie über das Patriarchat und wie schlägt sich das in ihrer Literatur nieder?

Ich denke, ich bin der denkbar schlechteste Vertreter des Patriarchats, aber sie hat das gewählt. Sie hat sich dann auch über mich geäussert und da hab ich gemerkt, ich bin da nur ein Platzhalter für ihre Projektion. Was sie über mich erzählt hat, ist einfach nicht wahr… Das Patriarchat? Sagen wir mal so, in meinen Büchern hat das alles gar nichts zu suchen. Ich schreib die Bücher über die Welt, die ich sehe um mich herum. Und wenn die patriarchalisch ist, dann ist sie auch in meinen Bücher patriarchalisch. Es ist nicht meine Aufgabe, Bücher zu schreiben über eine Welt, wie ich sie gern hätte, sondern so, wie sie ist… Ich denke nicht, dass ich ein Patriarch bin, überhaupt nicht. Ich arbeite im Haushalt mehr als meine Frau und hab auch kein Problem damit. Ich sehe in meinem Leben nicht wirklich, dass da Geschlechterunterschiede bestehen oder gemacht werden. Von daher wüsste ich jetzt gar nicht, was ich dazu zu sagen hätte. Ich bin natürlich für Gleichberechtigung, das ist selbstverständlich. Aber das ist jetzt auch nicht wahnsinnig originell oder heldenhaft. Es ist nicht wirklich ein grosses Thema für mich, ausser dass ich sehe, dass da noch viel zu tun ist, gerade was die Ungleichheit oder sowas angeht, aber das sind dann politische Prozesse, nicht literarische.

 

Inwiefern gewichten Sie Ihre eigene Leistung als Teil Ihres Erfolges? Sprechen sie auch dem Glück eine grosse Rolle zu?

Wenn ich Interviews von kreativen Leuten lese, fällt mir immer auf: Das sind alles Leute, die sehr viel Arbeiten. Die eigene Leistung ist zentral. Ich kenne niemanden, der Erfolg hat, der nicht viel arbeitet. Natürlich ist auch Glück dabei. Im Iran geboren oder in Kolumbien, dann hätte ich viel weniger Chancen so zu arbeiten. Abgesehen davon ist es schon Arbeit. Ich war jetzt nie jemand, der literaturpolitisch war. Es gibt ja Leute, die dann intrigieren, um sich irgendwelche Sachen zu erschleichen. Sowas kann man natürlich schon, aber ich glaube nicht, dass man auf die Dauer so weit kommt damit. Letztlich geht es ohne den guten Text nicht. Oder dann den Text, der im Markt gefragt ist, denn es gibt schliesslich auch Unterhaltungsliteratur.

 

Welchen Ratschlag würden Sie denen unter uns geben, die auch gerne irgendwann vom Schreiben leben möchten?

Ich sage immer, ich kann niemandem diesen Beruf empfehlen, aber ich finde es den tollsten Beruf überhaupt. Es ist nicht ein Beruf, den man in der Berufsberaterung empfohlen kriegt, weil es einfach wahnsinnig schwierig ist. Man muss das, glaube ich, schon sehr stark wollen, um Erfolg zu haben. Wenn man das ernst nimmt, wenn man es ernsthaft machen will, dann muss man es auch sehr ernstnehmen und sehr viel arbeiten. Viel lesen und viel leben vor allem. Das finde ich auch ganz zentral, dass man auch Dinge erlebt, sich dem auch aussetzt im Leben, nicht nur studiert, sondern auch rausgeht und Menschen trifft, wenn möglich reist. Aber natürlich gibt es so viele Arten zu schreiben, es gibt auch Leute, die ihr Leben lang in einem Haus gesessen sind und sich kaum bewegt haben und trotzdem wunderbare Literatur gemacht haben. Von daher gibt es alle möglichen Wege. Was wichtig ist, ist bei sich zu bleiben und eben nicht – was ich vorhin sagte – für den Markt zu schreiben oder sich zu fragen «Was wollen die Leute lesen?». In meinem nächsten Buch, von dem ich vorhin erzählt habe, sagt der Autor (es geht um einen Autor) irgendwann, der wichtigste Satz für ihn wäre vielleicht I don’t give a shit. Einfach sagen, es ist mir egal, was die Leute denken. Es ist mir egal, was die Presse sagt. Es ist mir egal, ob ich viele Bücher verkaufe. Wenn ich Erfolg haben will, muss ich meinen Weg gehen und nicht den Weg, den sich andere für mich vorstellen. Ob es dann gelingt, ist eine andere Frage. Wenn man es aber nicht einmal versucht, dann hat es überhaupt keinen Sinn.

 

Text: Helene-Shirley Ermel

Foto der Lesung: Johanna Ullrich