Die Kunstrichtung des Dadaismus ist vor allem eines: skurril und auf den ersten Blick sinnlos. Gibt es da eine Gemeinsamkeit mit modernen Internet-Memes?

Auf den ersten Blick sind dadaistische Werke – denken wir da an die Gedichte Hugo Balls oder die Plastiken Raoul Hausmanns – schwierig zu ergründen. Was soll das denn bedeuten, eine Fantasiesprache zu rezitieren oder willkürlich Montagen von Alltagsgegenständen anzufertigen? Was haben sie sich dabei gedacht?

Doch wenn wir hinter das augenscheinlich «Unsinnige» blicken, stellt sich vielleicht die Frage: Können wir ähnliche Absichten und Praktiken nicht auch in unserer zeitgenössischen «Kunst» entdecken? Inwiefern können Memes als neue Generation avantgardistischer Kunst gelten?

Grundlagen des Dadaismus

Gehen wir noch einmal kurz die Grundlagen durch. Der Dadaismus wurde 1916 in Zürich im Cabaret Voltaire als neue Kunstrichtung begründet. Zwei Jahre später veröffentlichte Tristan Tzara sein «Manifeste Dada 1918». Sein Ziel war es, aufzuzeigen, dass man auch gegensätzliche Motive und Aktionen miteinander verbinden kann, um etwas Neues zu kreieren. Dada – das Wort, welches keine Bedeutung trägt – könnte somit von einigen zu der Zeit als sinnlos, als Kunst für Kleinkinder, oder von anderen als Rückkehr zu einem trockenen und lauten Primitivismus gesehen werden.

Was genau bedeutet das nun? Dadaistische Kunst soll nicht schön sein, sie soll keinen Sinn tragen. Dadaismus ist ein Widerstand gegen bisherige Kunstpraktiken, eine Parodie der Kunst in Gestalt artistischer Werke. Er stellt sich der Zeitepoche entgegen, in der er entstanden ist. In Europa wütete der erste Weltkrieg, und auch in den Jahren danach fiel es schwer, einen Sinn in diesen Ereignissen zu sehen . Häufig griff der Dadaismus Motive des Krieges auf und ordnete sie so an, dass sie das Gesamtkonstrukt versinnlosen, verzerren und entstellen.

Unser Generationshumor

Um Memes als modernes Kulturgut zu verstehen, ist es wichtig, ihre Anfänge zu verstehen. Wer kreiert also Memes für wen und aus welchen Gründen? Bedeutend für die Entwicklung der Internetmemes sind die beiden Generationen Y (Millenials) und Z. Millennials sind – laut Forschungen des Pew Research Centers – geprägt von der Erinnerung an den Terroranschlag 9/11. Ausserdem erlebten sie wesentlich bewusster die Kriege in Afghanistan und im Irak. Dazu kommen die Präsidentschaftswahl 2008, aus der Obama als erster schwarzer Präsident der amerikanischen Geschichte hervorging, und die weltweite Finanzkrise im selben Zeitraum. In den Augen der Millennials verschlimmerte sich die Welt stetig. Memes dieser Generation behandelten folglich Themen, die ihre Hoffnungslosigkeit widerspiegelten. Insbesondere persönliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, kein Eigenheim oder finanzielle Schwierigkeiten stehen im Vordergrund.

Gen Z schliesst sich diesen nihilistischen Ansichten an, aber mit anderen Hintergründen. Von all den oben genannten Ereignissen bekam diese Generation wenig mit. Stattdessen wuchs sie unbewusst mit deren Folgen auf, zu denen noch weitere gesellschaftliche Umbrüche hinzukamen. Exemplarisch nenne ich hier den Syrienkrieg und die Flüchtlingswelle(n) ab 2015 und die Pandemie sowie den aktuellen Ukrainekrieg. Während für Millennials die Welt immer schlimmer wurde, ist Gen Z bereits in eine Welt voller Krisen hineingeboren und deshalb daran gewöhnt. Ihre Memes sind bei weitem nicht mehr so hoffnungslos, sondern verarbeiten die Welt mit Humor. Die Sinnlosigkeit des Lebens nehmen junge Menschen auf die leichte Schulter und nutzen Memes als Bewältigungsstrategie. In diesem Kontext können wir einen grossen Teil der aktuellen Memes als ein Aufmerksammachen auf globale Gefahren deuten.

 

 

Memes – Nachleben des Dadaismus?

Nun wissen wir, wer Memes produziert und wie. Aber wie ähnlich sind sich denn Memekultur und avantgardistische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts?

Der Dadaismus stellt den Anspruch an sich, sinnlos zu sein und jegliche Ordnung umzukehren. Beispielsweise wehren sich die Gedichte Hugo Balls vehement gegen verständliche Gedankenäusserungen. Seine Dichtungen in nichtexistierenden Sprachen machen es schwer, zwischen den Zeilen analytisch einen Sinn zu erfassen. Dadaismus ist Spontaneität. Dem Dadaismus widerstrebt es, sich unterzuordnen und «schöne» Werke zu erschaffen. Fotomontagen, Collagen, Plastiken verschiedenster Alltagsgegenstände – dies sind typische Mittel dieser Kunstrichtung.

Die ersten Internetmemes der Millennials waren noch sehr schlicht gestaltet. Teils nur ein Bild mit einer Person im Zentrum (wie zum Beispiel das «success kid») und einem Text darüber und darunter. Auch kurze Videoclips mit tanzenden Babys oder die sogenannte «lolspeak» (eine mit grammatikalischen Fehlern übersättigte Sprache, um die Gedanken von Katzen auszudrücken) waren und sind oft anzutreffen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Memes zu Beginn noch leicht verständlich waren. Durch die Gen Z, die mit dem Internet aufgewachsen sind, ändert sich dies drastisch.

Denn über Social Media verbreiten sich mittlerweile schnelllebige Trends. Was gestern viral ging, ist morgen vergessen. In nur wenigen Wochen entstehen immer neue Vorlagen («Templates»), doch sind gewisse Gestaltungselemente unumgänglich.

Gen Z ist Meisterin der Ironie: Keine andere Generation geht so geschickt mit Ironie um, wie die Generation Z. In der modernen Internetkultur gibt es vier Stufen der Ironie: Ernsthaftigkeit, Ironie, Post-Ironie und Meta-Ironie. Post-Ironie ist eine zweifache Umkehrung des Sinnes einer Aussage. Wenn ein Satz ernst gemeint ist, dann zwar ironisch wiedergegeben wird, aber seine Absicht behält, ist er ein gutes Beispiel für solche Post-Ironie. Wir können es anhand eines «Mocking Spongebob» Meme gut veranschaulichen: Der Satz «Du siehst gut aus» kann ironisch als «dU siEhSt gUt aUS» geschrieben sein, aber in einer post-ironischen Intention dennoch die ursprüngliche Bedeutung beibehalten. Meta-Ironie geht noch einen Schritt weiter: die Implikation eines Satzes ist aufgrund der unzähligen ironischen Umkehrungen nicht mehr eindeutig bestimmbar.

Neben ironischen Stilmitteln lassen sich viele andere beobachten und je absurder, desto besser. Darum verwenden Videoformate abrupte Schnitte, Audioverzerrungen, «Bass Boosting» und nicht aufeinander logisch aufbauende Inhalte. Manche TikToks parodieren eigenartige Träume, in denen unvorhersehbare Dinge passieren. Besonders absurde Reihungen von Ereignissen kommen bei der Gen Z sehr gut an. Um noch ein paar andere Beispiele aufzulisten: Memes beinhalten auch oft eine Übersättigung von Farben («Oversaturation»), spielen absichtlich mit einer schlechten Qualität oder entwickeln sich über Templates weiter, die tausendfach neu interpretiert und parodiert werden.

Der Dadaismus und die aktuelle Memekultur ähneln sich also sowohl in der Intention als auch in der Komposition. Beide Kunstrichtungen widersetzen sich der allgemeinen Logik und gesellschaftlichen Normen. Beide basieren auf dem globalen Zeitgeschehen (Krieg, Inflation, Klimawandel, Pandemie u.v.m.). Memes und Dada arbeiten mit verzerrenden Techniken, absurden Elementen und gelten in gewisser Weise als Anti-Kunst, da sie die konventionelle Norm von Kunst vernichten. Vielleicht bringt uns dieser Vergleich avantgardistischen Künsten näher. In jedem von uns stecken heute Ansichten des Dada. Wer weiss, wie wir Memes gestalten würden, hätte es den Dadaismus und seine zeitgleichen Strömungen nie gegeben?

 

Text und Illustration: Helene-Shirley Ermel