Anlässlich des 24. Geburtstags des Bologna-Prozesses erklärt Vizerektorin Chantal Martin Sölch, wo die Chancen und Grenzen der Vereinheitlichung des Studiums in Europa liegen.
Warum besteht das Studium aus Bachelor und Master? Und was bedeutet eigentlich ECTS? Viele haben sich diese beiden Fragen während ihres Studiums wohl schon einmal gestellt. Die Antwort darauf hängt mit dem Bologna-Prozess zusammen. Sowohl das Bachelor-Master-System als auch das European-Credit-Transfer-System, welches hinter dem Akronym ECTS steckt, bilden Massnahmen zur Vereinheitlichung des Studiums in Europa. Der Bologna-Prozess begann, wie sein Name unschwer erahnen lässt, vor 24 Jahren in der italienischen Stadt Bologna mit der Unterzeichnung einer Magna Charta Universitatum durch über 400 Hochschulrektoren. Anlass dazu bot das 900-jährige Bestehen der dortigen Universität, welche als die älteste in Europa gilt. Wo die Chancen und Grenzen dieses Bologna-Prozesses liegen, erklärt Vizerektorin Chantal Martin Sölch als Zuständige für Lehre und Inklusion im Gespräch mit Spectrum.
Mobilität und Flexibilität
Eine der grössten Chancen bildet sicherlich die Ermöglichung von Auslandsaufenthalten durch das Erasmus-Programm. Der Bologna-Prozess gewährt allerdings nicht nur Mobilität im engeren Sinne. Auch die soziale Mobilität wird gefördert durch einen vereinfachten Wechsel zwischen den Hochschultypen, also den Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. «Mit Bologna wurde eine höhere Ausbildung für alle zugänglich», betont Frau Martin Sölch. Dank des Bachelor-Master-Systems hat sich die persönliche Flexibilität ebenfalls gesteigert, welche laut Frau Martin Sölch «ganz neue und sehr spannende Profile» entstehen lässt. Studierende können nach Abschluss des Bachelors nämlich einen Master in einem anderen Studiengang oder an einer anderen Universität beginnen. Das Angebot an Studiengängen wurde durch die Schaffung von interdisziplinären Programmen ebenfalls vergrössert. So bietet die Universität Freiburg beispielsweise die vier interdisziplinären Masterprogramme «Environmental Humanities», «Digital Neurosciences», «Familien-, Kinder- und Jugendstudien» sowie «Islam und Gesellschaften» an.
Viele Punkte, wenig Substanz
«Das Studium ist nicht mehr das, was es einmal war», so lautet die häufigste Kritik am Bologna-Prozess. Beklagt wird dabei die Verschiebung des Fokus beim Studium. Wo früher das Lernen der Materie im Vordergrund stand, geht es heute um das reine Erwerben von ECTS-Punkten durch möglichst viele Prüfungen. Die Folge sind straff organisierte Studienpläne, welche einen Rückgang an Auslandsaufenthalten verursachen. Frau Martin Sölch gesteht, dass dies besonders am Anfang des Bologna-Prozesses der Fall war. Doch «jetzt stehen wir sozusagen in der Phase 2.0 und müssen überlegen, wie wir die Studiengänge etwas flexibler gestalten und somit mehr Austausche ermöglichen können.» Dazu habe die Universität Freiburg verschiedene Unterstützungsangebote wie die Dienststelle für internationale Beziehungen sowie die Studienberater in den Departementen entwickelt.
Ambivalenz der «Soft Skills»
Eine weitere Schöpfung des Bologna-Prozesses sind die sogenannten «Soft Skills». Heutzutage bilden solche ausserfachlichen Kurse einen festen Bestandteil der meisten Studiengänge. Sie stehen allen interessierten Studierenden offen und werden deren Studium angerechnet. Die «Soft Skills» könnten somit als Stärke des Bologna-Prozesses betrachtet werden. Allerdings weisen sie auch auf eine seiner Schwächen hin. Denn nicht nur machen nicht alle europäischen Staaten am freiwilligen Bologna-Prozess mit, das ECTS-System ist nicht einmal innerhalb einer Universität einheitlich. Will man beispielsweise einen Sprachkurs à 2 ECTS der Theologischen Fakultät als «Soft Skill» à 3 ECTS in seinem geisteswissenschaftlichen Studium an der Universität Freiburg validieren lassen, so ist man auf das Entgegenkommen seines Studienberaters angewiesen. Frau Martin Sölch versichert allerdings, dass die Departemente und Fakultäten «bemüht sind, relativ unkompliziert Lösungen im Sinne der Studierenden zu finden».
«Man muss die Lehre stetig neu denken»
Für Frau Martin Sölch überwiegen klar die Vorteile des Bologna-Prozesses. Sie betont die Bedeutungsschwere der Vereinheitlichung des Studiums in Europa: «Bologna hat viel ermöglicht, was früher nicht machbar war. Es wurde ein europäischer Bildungsraum geschaffen, wie es ihn vorher nicht gegeben hatte». Allerdings ist sie sich auch der Schwierigkeiten und Grenzen bewusst. Ihr Motto lautet diesbezüglich: «Man muss die Lehre stetig neu denken». Sie glaubt nämlich, dass man die Schwierigkeiten des Bologna-Prozesses überwinden und dessen Chancen ausbauen kann.