Die Ableitung vom Substantiv stealth (deutsch: Heimlichkeit, List) stellt noch keinen Bezug zum Recht her, geschweige denn zum Sexualstrafrecht. Dennoch ist die Diskussion unter den Rechtsexperten hitzig.

 

Stealthing sei, wenn einem Sexualpartner Safer Sex vorgetäuscht werde. In dieser These streift der Mann heimlich beim Sex das Kondom ab. Rechtsprofessor Marcel Alexander Niggli weiss, dass bereits der Umstand, dass dieses Phänomen nicht in präzises Deutsch übersetzt werden kann, ein verräterischer Hinweis ist. Nämlich darauf, dass niemand so recht wisse, wovon er eigentlich spreche.

Abstreifen des Kondoms: In der Schweiz kein Sexualdelikt

Professor Niggli wagt dennoch eine Umschreibung des Begriffs: «Es geht darum, dass jemand während des Sexualakts eine Handlung vornimmt, die vorher nicht explizit abgesprochen wurde.» Zum Beispiel, wenn der Mann heimlich das Kondom abstreift. Diese Tat ist eigentlich kein Sexualdelikt. Das Bundesgericht spricht 2022 einen Angeklagten vom Vorwurf der Schändung nach Artikel 191 StGB frei. Wegen Schändung wird bestraft, wer eine widerstandsunfähige Person zu einer sexuellen Handlung missbraucht. Typische Fälle in der Rechtsprechung sind stark alkoholisierte Opfer. Die Begründung des Gerichts zieht Niggli aber in Zweifel: «Nach meinem Dafürhalten wäre das heimliche Abstreifen des Kondoms eine Schändung nach Art. 191 StGB.» Es ist ein Leichtes, das Kondom unbemerkt abzustreifen. Bezüglich dieser Tat ist das Opfer daher widerstandsunfähig. Allerdings betont Niggli auch, dass hier kein Fall von willenswidriger Sexualität vorläge. «Gerade, dass das Abstreifen nicht bemerkt wird, zeigt, dass die Einwilligung in die sexuelle Handlung eben nicht tangiert ist.»

«Das ganze Leben ist eine Strafrechtslücke»

Die NZZ kommentierte das Urteil des Bundesgerichts vom Mai 2022 mit den Worten: «Das geltende Strafrecht versagt.» Niggli betont, dass in dieser Debatte oftmals vergessen wird, welche Strafbestimmungen dennoch greifen. Die fatalen Folgen, die ungeschützter Sex haben kann, sind strafbar. Infiziert sich das Opfer mit einer Geschlechtskrankheit, so ist dies selbstverständlich eine strafbare Körperverletzung, erklärt Niggli. Hier greift das Schweizer Strafrecht also, auch wenn nicht durch Sexualstrafrecht. Von Versagen könne nicht die Rede sein. Als Strafrechtsexperte ärgert es ihn, wenn man die aktuelle Rechtslage als Lücke definiert. «Das ganze Leben ist eine Strafrechtslücke. Wenn jemand sagt, im Strafrecht gibt es eine Lücke, dann sagt er nichts anderes als: Ich will, dass diese Tat bestraft wird. Das darf man wollen. Aber Schuld ist nicht das Strafrecht.» Denen, die sich eine Veränderung der Rechtslage wünschen, empfiehlt er das Lancieren einer Initiative.

 

 

Sexualstrafrechtsrevision

In Zukunft sollen unter der «Nein heisst Nein»-Lösung alle sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person unter den Tatbestand der Vergewaltigung fallen. Diese Lösung befürwortet Dr. Nora Scheidegger, Oberassistentin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. So wäre auch das heimliche Abstreifen des Kondoms nach der Revision ein Sexualdelikt. «Es soll nicht ein einzelnes Verbot geschaffen werden, sondern man versteht stealthingrichtigerweise als Sex gegen den Willen des Opfers, folglich als Verstoss gegen die «Nein heisst Nein»-Regel», sagt sie gegenüber SRF. Niggli sieht darin keine taugliche Lösung.

«Klar unter Einfluss des amerikanischen Kulturimperialismus»

Denn auch im Falle von stealthing: Zum Sex wurde eingewilligt. Es handle sich nicht um Sex gegen den Willen des Opfers. «Ob Sex mit oder ohne Gummi, ist eine Bedingung des Sexualakts», sagt er. Beim Abstreifen des Kondoms missachtet der Täter somit eine Bedingung, nicht den Willen zum Geschlechtsverkehr. Dem neuen Gesetzesentwurf steht Niggli kritisch gegenüber. Nicht alle Sexualpartner sprechen vorher ab, was später im Schlafzimmer alles genau passieren soll. Nicht alle Bedingungen sind im Vorhinein fixiert. Eben dies hat die Sexualität bislang von einem Vertrag unterschieden. Heute zeigt sich ein vermehrt aufkommendes Bedürfnis nach Explizitheit. Die Vorstellung also, dass für jede Handlung und jede Bedingung ein ausdrückliches Ja oder ein Nein vorausgesetzt werden muss. Die Amerikaner würden sagen: Den Consent des Gegenübers einholen. Diesen Gedanken nimmt der neue Gesetzesentwurf auf. «Klar unter Einfluss des amerikanischen Kulturimperialismus», sagt Niggli.

 

Text Pauline Anne Meyer

Illustration Marie Schaller