Mobilisiert eine Protestbewegung mindestens 3.5 Prozent der Bevölkerung zum Widerstand gegen die Regierung, wird sie erfolgreich sein. Wie viel Bedeutung darf dieser Zahl geschenkt werden?

Der Begriff der 3.5 Prozent-Regel schiesst durch die Decke, nachdem Politikwissenschaftler*in Erica Chenoweth 2013 den Ted-Talk Civil resistance and the «3.5% rule» hielt. Die Zahl wird zur einfachen Erklärung für den Erfolg von Revolutionen gekürt. Doch ist es so einfach?

Mit 3.5 Prozent zum Erfolg

Die Regel besagt, dass noch keine Regierung einer Herausforderung durch eine Protestbewegung standgehalten hat, bei der 3.5 Prozent der Bevölkerung während einem ihrer grössten Ereignisse, beispielsweise einer der Demonstrationen, gegen sie mobilisiert wurden.

Erica Chenoweth lehrt an der Harvard Kennedy School in Massachusetts, wo sie politische Gewalt und ihre Alternativen untersuchen. Deren besonderes Interesse gilt der Frage, wie Menschen sich effektiv gegen Autoritarismus wehren und systemische Veränderungen fordern, sowie dem Einsatz sozialwissenschaftlicher Instrumente zur Unterstützung von politischen Veränderungen, die von Protestbewegungen geführt werden. So untersuchte Chenoweth im Jahr 2013, ob die ursprünglich vom Politikwissenschaftler Marc Lichbach aufgestellte 5 Prozent-Regel in einer grossen Stichprobe von revolutionären Bewegungen anzuwenden ist. Dazu verwendete Chenoweth einen Datensatz, der 323 gewaltfreie und gewalttätige Massenmobilisierungen von 1900 bis 2006 dokumentiert, die darauf abzielten, nationale Regierungen zu stürzen oder territoriale Selbstbestimmung zu erlangen. Der Datensatz enthält unter anderem Schätzungen der Anzahl Personen, die an diesen Kampagnen, während ihrer grössten Ereignisse, teilnahmen. Der Index, der den Prozentsatz der Beteiligung der Bevölkerung an den einzelnen Kampagnen dokumentiert, rechnet sich mit der Anzahl der beobachteten Teilnehmer*innen, geteilt durch die Bevölkerung des jeweiligen Landes. Das Resultat war eine neue Zahl: Alle Bewegungen, die eine Spitzenbeteiligung von mindestens 3.5 Prozent aufwiesen, waren erfolgreich.

 

Vorsicht bei der Regel

Mobilisiere diesen bestimmten Anteil der Bevölkerung und du stürzt die Regierung? Nein. Was gerne als Gesetz beschrieben wird, vermag nicht völlig allein zu stehen. Doch in Kombination mit anderen Faktoren kann die Regel angewendet werden. Erica Chenoweth veröffentlichte 2020 das Diskussionspapier Questions, Answers, and Some Cautionary Updates Regarding the 3.5% Rule. Darin werden Fragen zur Interpretation und Aktualität der Regel beantwortet.

 

 

Bedeutet die Regel, dass eine Bewegung, die mindestens 3.5 Prozent der Bevölkerung auf die Straße bringt, immer gewinnen wird?

Nicht unbedingt, schreibt Erica Chenoweth. Wichtig zu wissen ist, dass die 3.5 Prozent die Höchstbeteiligung zu einem Zeitpunkt, beispielsweise an einer Massendemonstration, und nicht die kumulative Beteiligung an der Bewegung über die Zeit hinweg betreffen. Auch lässt die Regel keine Rückschlüsse auf die Führung, die strategische Vorstellungskraft, die organisatorische Fähigkeiten und die Nachhaltigkeit der Bewegung zu. Eine strategische Führung ist jedoch essenziell, um eine Wählerschaft zu organisieren, ihr Engagement zu motivieren, Kampagnen adaptiv zu gestalten, auf Gegner*innen zu reagieren, langfristige organisatorische Kapazitäten zu erhalten und Alternativen zu bestehenden Systemen zu entwickeln. Die Fähigkeit einer Bewegung, das zu tun, sei wahrscheinlich wichtiger als die Fähigkeit einer Bewegung, schnell eine große Anzahl von Menschen zu mobilisieren. Dies vor allem, weil die heutige digitale Organisationsumgebung es zwar einfacher macht, Massenproteste zu koordinieren, aber nicht unbedingt, sie aufrechtzuerhalten.

Eine Regel, kein Gesetz

Erica Chenoweth entfernt sich daher vom Begriff des Gesetzes und schreibt von der «Faustregel». Eine Faustregel sei eine genauere Art, die 3.5 Prozent in einer Welt zu interpretieren, in der sich die Muster des kollektiven menschlichen Verhaltens ständig ändern können. Regeln seien wissenschaftliche Prinzipien, die als Werkzeuge, Messungen oder Richtlinien verwendet werden können. Gesetze seien wissenschaftliche Fakten. Die Betrachtung der 3.5 Prozent-Regel als Gesetz würde bedeuten, dass eine Kampagne mit einer Spitzenbeteiligung von nur 3.5 Prozent immer gewinnen wird. Damit ist impliziert, dass Bewegungen, die diese Schwelle nicht erreichen, keinen Erfolg haben können. In der Vergangenheit waren jedoch die meisten gewaltfreien Bewegungen mit weniger als 3.5 Prozent Spitzenbeteiligung erfolgreich gewesen. Von allen untersuchten maximalfordernden, gewaltfreien Kampagnen (solche mit dem Ziel, umfassende Veränderungen herbeizuführen, wie einen Regimewechsel), die erfolgreich waren, haben 83 Prozent die 3.5 Prozent-Schwelle nicht überschritten. Dazu zählen die Kampagne zum Sturz des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević im Jahr 2000 und die Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi in den Jahren 2012 und 2013 im Rahmen des ägyptischen Frühlings. Simple Lösungen und einfache Zahlen scheinen eine enorme Anziehung auf den Menschen zu haben. Er hat das Bedürfnis, gesellschaftliche Phänomene so knapp und übersichtlich wie möglich zu beschreiben, um ihre Komplexität zu reduzieren. Dazu verwendet er gerne mathematische Anstrengungen. Eine Zahl allein löst jedoch keine Rechnung. Und besonders zum Lösen einer Gleichung bedarf es nun mal mehrerer Faktoren. Wobei vielleicht fraglich ist, ob die Gleichung die richtige Metapher für Protestbewegungen auf der einen und Regierungen auf der anderen Seite ist, scheint sie doch passend. Auf beiden Seiten wird weggekürzt. Dies manchmal so lange, bis auf keiner der Seiten mehr etwas übrig ist.

 

Text Selina Keiser

Illustration Pixabay