Ein Interview mit Frau Prof. Alexandra Jungo.

 

Neben den Influencern auf Social Media werden nun sogar Kinder vor die Kamera gezogen. Ob auf einem Familien-Account oder einem eigenen Account, wie ihre erwachsenen Vorbilder geben auch sie einen Einblick in ihren Alltag oder bewerben Produkte. Kinder-Influencer erfreuen sich immer grösserer Beliebtheit. Frau Prof. Alexandra Jungo beleuchtet die Situation der Kinder-Influencer aus einer juristischen Perspektive und erklärt, inwiefern das Kindeswohl betroffen ist.

Frau Jungo, Sie sind Professorin für Privatrecht und beschäftigen sich unter anderem mit dem Familienrecht. Inwieweit können Kinder schon für sich selbst Entscheidungen treffen beziehungsweise brauchen sie noch die Unterstützung der Eltern?

Hierbei geht es um das vernunftgemässe Handeln. Das ZGB (Zivilgesetzbuch) verwendet den Begriff der Urteilsfähigkeit. Ab wann kann ein Kind oder eine erwachsene Person vernunftgemäss handeln? Ab wann ist eine Person urteilsfähig? Dafür gibt es keine festgelegte Altersgrenze, denn es kommt dabei jeweils auf die konkrete Handlung an. Ein Kind ist sich schon früh im Klaren, was es darf und was nicht. Beispielsweise weiss ein Kind, welches in der Stadt aufwächst, dass es nicht einfach so über die Strasse gehen darf. In diesem Fall wäre das Kind also urteilsfähig. Es ist sich darüber bewusst, welche Folgen seine Handlungen haben werden und worauf es aufpassen muss. Ein in Bezug auf den Strassenverkehr grundsätzlich urteilsfähiges Kind kann aber vom Spiel so eingenommen sein, dass es in der Aufregung nicht mehr vernunftgemäss handeln kann, also nicht mehr urteilsfähig ist. Wenn es beispielsweise einem Ball bis auf die Strasse hinterherrennt, ohne nach links und rechts zu schauen, ist es nicht urteilsfähig. Die Urteilsfähigkeit hängt vom Kind, seinem Umfeld und der bestimmten Handlung ab. Ein Kind kann im Rahmen seiner eigenen Urteilsfähigkeit selbstständig entscheiden. Solange ein Kind nicht urteilsfähig ist, übernehmen die Eltern die Entscheidungskompetenz. Sobald es 18 Jahre alt ist, kann es alle Entscheidungen selbst treffen.

 

Urteilsfähigkeit

Hierbei ist das vernunftgemässe Handeln gemeint. In Art. 16 ZGB ist definiert, wer wann nicht urteilsfähig ist, zum Beispiel aufgrund des Kindesalters. Eine genaue Altersgrenze für das Vorliegen der Urteilsfähigkeit gibt es aber nicht.

 

Unter welchen Umständen kann Eltern die elterliche Sorge entzogen werden?

Dies ist nicht so schnell der Fall. Da muss schon viel passieren, bis das geschieht. Zuallererst wird die Kindesschutzbehörde informiert. Diese gibt den Eltern dann Weisungen zur Erziehung. Funktioniert dies nicht, kommt vielleicht ein Beistand infrage, welcher das Kind begleitet und die Eltern in Erziehungsfragen berät. Wenn die Eltern überhaupt nicht in der Lage sind, ihr Kind zu betreuen, kommt es in eine Pflegefamilie. Die Eltern haben dabei aber nach wie vor die elterliche Sorge. Sie können zum Beispiel entscheiden, ob das Kind operiert werden soll oder nicht. Sind die Eltern gar nicht mehr imstande, Entscheidungen zugunsten ihres Kindes zu treffen, kann ihnen im Extremfall die elterliche Sorge entzogen werden.

Wie sieht es bei Kinder-Influencern aus?

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein Kind in Bezug auf das Erstellen eines Accounts auf einer Plattform urteilsfähig ist. Viele – aber nicht alle – Kinder dürften dies heute ab etwa 12 Jahren sein. Kinder sind in diesem Fall urteilsfähig bezüglich darauf, was im Hier und Heute geschieht. Was ihnen Schwierigkeiten bereitet, ist, vorausschauend zu denken. Das bedeutet, dass es ihnen schwerfällt, die längerfristigen Folgen abschätzen zu können. Sie sind noch nicht so gut in der Lage zu verstehen, dass die Fotos unter Umständen von der ganzen Welt gesehen werden können. In diesem Bereich könnte man dem Kind die Urteilsfähigkeit absprechen. In dieser Situation wäre es an den Eltern zu sagen: «Wir verbieten dir, dass du diesen Account führst, da du nicht alt genug bist.» Dabei müssten die Eltern erst einmal von einem solchen Account wissen. Erst dann kann eine Lösung gefunden werden. Je älter das Kind ist, desto weniger sind die Eltern berechtigt, dem Kind die eigene Urteilsfähigkeit abzusprechen. Im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit entscheiden die Kinder selbst über ihre Posts und ihre Kontakte auf Social Media.

Ab welchem Alter darf ein Kind seinen eigenen Account führen?

Die Betreiber von Social-Media-Plattformen haben eigene Richtlinien erstellt, die den US-Children’s Online Privacy Protection Act of 1998 zum Vorbild haben. Danach dürfen Kinder ab 13 Jahren einen eigenen Social-Media-Account erstellen, worauf sie Fotos, Videos oder Sonstiges posten können. Wenn ein Kind seinen eigenen Account eröffnen will, obwohl es noch nicht 13 Jahre alt ist, muss im Vermerk «Account managed by Parents» stehen. Ab 13 Jahren darf ein Kind dann selbstständig einen Account erstellen und auch führen. Jedoch kann es hier ebenfalls Probleme geben. Beispielsweise könnten die Eltern damit einverstanden sein, dass ihr Kind einen Account betreibt, und es dann sogar pushen, wenn sie merken, dass sich damit Geld verdienen lässt. Hier liesse sich sagen, dass das Wohl des Kindes verletzt wird. Dies könnte zu einem Kindesschutzverfahren führen. Dafür müsste dieser Fall aber zuerst bei der Kindesschutzbehörde gemeldet werden. Das eine Problem ist: Wann ist das Kindeswohl gefährdet? Das andere Problem ist, wie die Kindesschutzbehörde davon erfährt.

 

«Das eine Problem ist: Wann ist das Kindeswohl gefährdet? Das andere Problem ist, wie die Kindesschutzbehörde davon erfährt.»

 

Wer kann einen solchen Fall melden?

Jeder könnte dies tun. Allerdings tun wir dies in der Regel nicht so schnell. Wenn ein Kind grün und blau geschlagen wird, reagieren manchmal nicht einmal die Nachbarn. Selbst Verwandte können die Kindesschutzbehörde kontaktieren, sollten die Eltern das Wohl ihres Kindes verletzen, indem sie es auf ihren Social-Media-Accounts rund um die Uhr zeigen. Die Kindesschutzbehörde müsste in einem nächsten Schritt die Bilder überprüfen, welche gepostet werden. Danach setzt sie sich mit den Fragen auseinander: Ist es problematisch, wenn das Kind für Turnschuhe wirbt? Ist es schlimm, wenn das Gesicht des Kindes auf einem Familienfoto zu sehen ist? Dies ist im ZGB nicht definiert und muss je nach Fall untersucht werden.

Kleinkinder können noch nicht für sich selbst sprechen. Wie sieht es aus, wenn Eltern ihre Babys auf ihren Social-Media-Accounts zeigen oder sogar einen eigenen Account für diese führen?

Wenn Eltern Fotos von ihren ein- oder zweijährigen Kindern posten, die problematisch sind, kann das strafrechtlich relevant sein. Wenn es kinderpornografische Inhalte sind, kommen die Strafbehörden und die Kindesschutzbehörde ins Spiel. Handelt es sich um unbedenkliche Fotos, wird aber der Alltag des Kindes von früh bis spät auf Social Media dokumentiert, bedeutet dies eine Persönlichkeitsverletzung des Kindes. Das Kind ist den Eltern sozusagen ausgeliefert. Hier ist die informationelle Selbstbestimmung des Kindes verletzt.

 

Children’s Online Privacy Protection Act

Über Kinder, die unter 13 Jahre alt sind, dürfen keine Daten gesammelt werden. Dies besagt die Richtlinie des Children’s Online Privacy Protection Act (COPPA).

 

Fotos bleiben normalerweise im Internet, wenn sie einmal gepostet wurden. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese wieder zu löschen?

Dies ist eine rein technische Frage, welche nicht mehr in mein Fachgebiet fällt. Nach Schweizer Recht gibt es die Möglichkeit, dass das Kind später beispielsweise von den Eltern verlangt, dass der Account mit den Bildern gelöscht wird. Wie dieses Problem auf technischer Ebene zu lösen ist, weiss ich leider nicht. Rechtlich gesehen könnten die Kinder beziehungsweise die Eltern auch von der Plattform, zum Beispiel Instagram, verlangen, dass diese die Fotos oder den Account löscht. Gegen einen Social-Media-Riesen zu klagen, ist aber sehr aufwendig und kostspielig.

Welche Probleme können durch eine grosse Internetpräsenz eines Kindes entstehen und wie könnte man diese Probleme ihrer Meinung nach lösen?

Wenn ein Kind eine hohe Social-Media-Präsenz hat, kann es verschiedene Probleme geben. Das Kind kann von den Klassenkamerad:innen ausgegrenzt oder gemobbt werden. Wir wissen auch von Fällen, bei welchen sich Personen und Jugendliche umgebracht haben, weil sie auf Social-Media-Plattformen verletzt beziehungsweise gemobbt wurden. Psychische und emotionale Schäden können hier nicht ausgeschlossen werden. Aufklärung ist schon einmal ein guter Ansatz. Es ist wichtig, über die möglichen Probleme und Folgen der Digitalisierung aufgeklärt zu werden; das gilt für Kinder wie auch für Erwachsene. Es könnte in der Schule beispielsweise jedes Jahr ein Workshop durchgeführt werden, bei welchem die Kinder und Jugendlichen über die Nutzung von Social Media und des Internets besser aufgeklärt werden. Bei den Eltern ist dies schwieriger, denn für sie ist diese Informationsbeschaffung freiwillig. Eine landesweite Kampagne, die über die Probleme der Digitalisierung und über Kindesschutz informiert, wäre eine Möglichkeit. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat zum Beispiel vor 18 Jahren die «Stop-Aids-Kampagne» durchgeführt. Dabei wurde über das HI-Virus aufgeklärt, wie man sich davor schützt und wie man sich in einer Risikosituation oder bei Symptomen richtig verhält. Ähnliches könnte das BAG auch zur Informierung über die Gefahren der Digitalisierung machen. Ob dies nun das BAG machen sollte, ist eine andere Frage. Zusammenfassend lässt sich hier aber sagen: Aufklärung ist alles!

 

Text Aliyah-Sophie Manzke

Foto Alexandra Jungo