Aus Solidarität mit der Ukraine nimmt die Universität Freiburg seit einem Jahr Forschende und Studierende auf. Zwei Ukrainerinnen erzählen von ihrem neu gewonnen Alltag.
Vor genau einem Jahr kamen Antonina Skydanova und Sofiia Nesterenko als Flüchtlinge in die Schweiz. Beide hatten bereits bei ihrer Ankunft eine Bestätigung für die Aufnahme an der Universität Freiburg. Antonina verdankt diese ihrem Gastprofessor Fayet. Die Finanzierung ihres Aufenthalts wird dabei durch Scholars at Risk (SAR) ermöglicht, einem internationalen Netzwerk von Universitäten zur Verteidigung der akademischen Freiheit sowie der Menschenrechte von Wissenschaftlern. Sofiia hat das Angebot der Universität Freiburg für Studierende aus der Ukraine genutzt, sich während des Kriegs hier als Gaststudierende einzuschreiben.
Universitäre Unterschiede
An der Universität Freiburg arbeitet die 39-jährige Antonina nun als Senior Researcher. Sie untersucht den imperialen Kontext der Entstehung von nationalen Armeen in Osteuropa. Zudem ist sie Teil einer Kollaboration von schweizerischen und ukrainischen Spezialisten für Zeitgeschichte und Osteuropastudien, welche ab Ende Mai ihre Forschungsarbeit durch die Ausstellung «Museum in the Line of Fire» präsentieren wird. Antoninas Arbeitsalltag in der Schweiz unterscheidet sich stark von demjenigen in der Ukraine. Denn ihre vorherige Stelle als Dozentin für Geschichte an der Ivan Kozhedub Kharkiv National Air Force University liess neben dem Unterrichten keine Zeit für solche Projekte. Die 20-jährige Masterstudentin Sofiia aus Brussyliw, einer städtischen Siedlung westlich von Kiew, erkennt ebenfalls einige universitäre Unterschiede. Beispielsweise sei der Arbeitsaufwand an der Universität Freiburg bedeutend geringer als derjenige an ihrer Heimuniversität.
Der immer gleiche Alltag
Dennoch unterscheidet sich ihr neu gewonnener Alltag kaum von ihrem früheren Leben. Antonina arbeitet pro Tag durchschnittlich sieben Stunden, allerdings «kommt in der Forschung die Inspiration oft spät in der Nacht oder am Wochenende». Etwas zeiteffizienter lebe sie in der Schweiz aber schon. Dank dem guten öffentlichen Verkehr sei ihr Weg zur Arbeit kürzer und entspannter als in ihrer Heimat Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine. Sofiia besucht gleichzeitig den Präsenzunterricht an der Universität Freiburg und Onlinevorlesungen von ihrer Heimuniversität, der Taras Shevchenko National University in Kiew. Zu letzterer erklärt sie fast beiläufig: «Manchmal fallen Vorlesungen aus, weil ein Luftangriff droht». Selbst dies scheint mittlerweile zu ihrem Alltag zu gehören.
La dolce vita svizzera?
Ihre Integration in die schweizerische Gesellschaft beurteilt Antonina mit einer «5 von 10», Sofiia schätzt ihre etwas besser ein. Sie sind sich einig, dass die Sprachbarriere am schwierigsten zu überwinden war. Geholfen haben ihnen Kontakte in der Schweiz, welche bereits vor der Flucht bestanden. Die freundliche Atmosphäre an der Universität Freiburg hat ihnen das Einleben ebenfalls erleichtert. Unterschiede zwischen der Ukraine und der Schweiz erkennen sie vor allem im Lebensstil. Sofiia erklärt: «Die Schweizer nehmen sich ihre Zeit und geniessen ihr Leben. Wir Ukrainer hingegen arbeiten hart und sind eher ernst». Das meine sie allerdings nicht böse. Ein Grund dafür sei wohl, dass die Ukrainer sich seit Kriegsausbruch irgendwie beschäftigt halten müssten. Der ein oder andere Schweizer wird über diese Einschätzung wohl dennoch überrascht sein. Schliesslich wird la dolca vita hierzulande eher mit Italien in Verbindung gebracht.
Heimat im Hinterkopf
Antonina und Sofiia haben sich nach einem Jahr in der Schweiz gut eingelebt. Dennoch bleibt ihre Heimat im Hinterkopf. Schliesslich liegt ihnen die Ukraine stark am Herzen. Sofiia ist daher froh über die Abwechslung, welche ihr die Universität Freiburg bietet. Sie erklärt: «Ich bin dankbar, mich vom Krieg ablenken zu können». Antonina hingegen wehrt sich gegen den Begriff Ablenkung. Wohl ist auch sie froh, in der Schweiz ihrer Arbeit nachgehen zu können. Allerdings betont sie: «Meine Gedanken sind jeden Tag in der Ukraine. Jeden Tag bin ich stolz auf das Heldentum unserer Soldaten und den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung. Jeden Tag wird mir von neuem bewusst, in was für einem historischen Moment ich leben darf».