Sechs Wochen Sprachaufenthalt in Tokio, vier Wochen das Land bereisen – ein langersehnter Wunsch, der nun endlich Realität wurde.
Tokio ist eine Stadt der Gegensätze: Hippe Strassen und ruhige Wohnviertel, Wolkenkratzer und enge Einzimmerwohnungen, Angestellte in schwarzen Hosen und weissen Hemden und Jugendliche in Lolita-Outfits. Einige dieser Erlebnisse möchte ich mit den Leser:innen von Spectrum teilen.
Untergang in der Masse
Die Ankunft in der Grossstadt ist überwältigend. Am Flughafen wimmelt es von Menschen und der Orientierungssinn hat noch nicht eingesetzt. Sogleich spricht mich eine Bahnangestellte freundlich an und fragt, ob ich eine IC-Karte kaufen wolle. Diese wiederaufladbare Karte ist praktisch, sie ist einsetzbar in allen Zügen und Bussen in ganz Japan. Ich halte sie an die Ticketschranke, ein Piep-Ton ertönt und ich eile schnell in den Zug, bevor die Türen schliessen. Die japanische Metro ist zuverlässig und fast immer pünktlich. Im Inneren des Zugs ist es sehr still, eher selten hört man jemanden sprechen. Sicher über die Hälfte der sitzenden Fahrgäste schläft, andere schauen wiederum mit Kopfhörern Anime.
Von Neonlichtern umgeben
Im Nordwesten der Stadt, im Wohnviertel Nerima-Ku, betrete ich mein Zimmer in einem Sharehouse. 30 Minuten davon entfernt treffen die Viertel Shinjuku und Shibuya, bekannt für ihre Bars, Clubs und die Popkultur, aufeinander. Das typische Bild von Tokio bei Nacht: Neonlichtern und Anime-Figuren, die auf riesigen Werbeflächen herumtanzen – diese Szenen finden sich in eben jenen Vierteln. Auch Ikebukuro, ein kleineres Ausgehviertel in der Nähe meiner Unterkunft, lässt sich dieser Kategorie zuordnen. Mit drei Freunden aus dem Sharehouse stehe ich vor einer fünfstöckigen Spielhalle. Ganz typisch sind die Crane Games, bei welchen verzweifelt versucht wird, ein Plüschtier oder eine Anime-Figur anzuheben und in die Öffnung fallen zu lassen. Ich werfe 200 Yen – fast einen Franken – in die Maschine und drücke auf Start. 800 Yen später gebe ich auf, denn dieses Spiel ist so konzipiert, dass ich nur verlieren kann. Nach ein paar Runden Mario Kart im oberen Geschoss bewegen wir uns in Richtung der vielen Bars in Ikebukuro. Am Rand der Strassen stehen einige Frauen in Lolita-Kleidung und einem Schild in der Hand, sie leisten Männern gegen Bezahlung Gesellschaft. Wie freiwillig dies ist, bleibt offen. Für Frauen gibt es sogenannte Host-Clubs, in welchen diese im Beisein attraktiver Männer viel Geld ausgeben. Prostitution ist in Japan illegal, in der Praxis findet sie trotzdem statt.
Shintoismus und 3D-Katzen
Ein paar Tage später bin ich in Asakusa (gesprochen Asak’sa) und Ueno unterwegs. Die zwei Viertel haben ein traditionelles Flair. Dort treffe ich auf den ersten von unzähligen weiteren Schreinen, die ich während meines Aufenthalts besichtigen werde. Ein Shinto-Schrein ist mit roter Farbe bemalt und ein Tori-Tor kennzeichnet den Eingang zum Schrein. Die Mitte des Weges, welcher zum Schrein führt, ist dem Gott des Schreines, dem Kamisama, vorbehalten. Als Besucherin achte ich deswegen darauf, entweder am rechten oder linken Wegrand entlangzulaufen. In Asakusa gibt es auch die häufig anzutreffenden Einkaufsstrassen. Diese ziehen sich zum Teil kilometerweit und zeichnen sich dadurch aus, dass sie überdacht sind. Von Läden, die Kimonos anbieten, zu solchen, die japanische Süssigkeiten anbieten – man findet dort fast alles. In Asakusa setze ich mich in ein Café namens Hatcoffee. Die Mitarbeiter:innen sind darauf spezialisiert, 3D-Cappucinos anzufertigen. Gespannt schaue ich zu, wie der Barista mit zwei Löffeln weissen Milchschaum auf meinen Kaffee türmt. Als Vorlage habe ich ihm ein Bild meiner Katze gegeben. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Katzenohren erkennbar sind. Mit brauner Lebensmittelfarbe malt der Künstler die Schnurrhaare und die Augen auf den Schaum, ich traue mich später fast nicht, das Kunstwerk zu zerstören. Es ist ein Erlebnis, das ein Lächeln aufs Gesicht zaubert.
Meine Hassliebe für Konbinis
Direkt neben der Sprachschule steht ein 24-Stunden-Laden, auch Konbini genannt. Nicht nur dort, fast alle 150 Meter findet sich ein Konbini. Die drei bekanntesten Marken sind 7-Eleven, Family Mart und Lawson. Das Angebot ist gross: Seien es ganze Mahlzeiten für 500 Yen (3.50 CHF), Onigiris (dreieckige Reisbällchen) jeglicher Art, Snacks, Getränke, Hosen, T-Shirts, Strümpfe oder Abkühltücher für den Sommer. Zu meinen Favoriten gehört das Melonenbrötchen mit saftiger Melonencreme sowie das Pizzabrötchen. Diese beiden Produkte sind im Family Mart erhältlich, im 7-Eleven gibt es dafür eine beachtliche Auswahl an leckeren Baumkuchen. Auch die mit gebratenen Nudeln gefüllten Brötchen haben es mir angetan.
Trotz meines Enthusiasmus’ für diese Läden fällt es mir schwer zu verstehen, weshalb sie 24 Stunden lang geöffnet sein müssen. Durch meine Japanischlehrerin erfahre ich, dass Angestellte in Konbinis sehr niedrige Löhne erhalten, weshalb man diese Läden auch kritisch betrachten kann.
Es gibt weitere Punkte, die mich an Japan irritieren. In den ersten Tagen beispielsweise suche ich verzweifelt nach vegetarischen Optionen, welche eher schwer zu finden sind. Mithilfe der App Happy Cow, werde ich dann doch fündig. Dennoch ist es leider so, dass in den meisten traditionellen Restaurants nichts Vegetarisches vorhanden ist und viele Konbini-Produkte versteckte tierische Inhaltsstoffe enthalten. Auch ist der Plastikkonsum in Japan allgegenwärtig. An der Kasse im Konbini muss ich mich gegen das gratis Plastikbesteck wehren und in normalen Cafés bekomme ich den Kaffee oft in einem Pappbecher anstatt in einer Tasse.
Onsen-Etiquette
Das japanische Badehaus (Onsen), das ich an einem Sonntagabend zum ersten Mal besuche, befindet sich in der Nähe meines Sharehouses. Im Eingangsbereich werden zuerst die Schuhe ausgezogen und in ein Abteil gestellt. Danach betrete ich das Gebäude, die Angestellte an der Rezeption erklärt mir die Regeln und fragt mich sogleich, ob ich Tattoos besitze.
Tattoos sind in Japan nach wie vor ein Tabu, auch wenn sie langsam populärer werden. Der Besuch eines Onsens ist Personen mit Tattoos oft untersagt, es sei denn, die Tattoos sind klein und abklebbar.
Die Bäder sind nach Frauen und Männern getrennt und ich betrete die Garderobe der Frauen. Sowieso orientiert sich Japan sehr stark am binären Geschlechtsmodell. Beispielsweise sieht man deutlich mehr Frauen in Röcken als in der Schweiz. Das könnte daran liegen, dass die Kinder in der Schule von Anfang an geschlechtsstereotype Schuluniformen tragen.
Bevor ich in die heisse Quelle gleite, wasche ich mich gründlich, dafür setze ich mich auf einen kleinen Hocker vor einem Spiegel und seife mich ein. Die Bäder im Aussenbereich sind besonders schön. Im grösseren Bad sitzen die Frauen beieinander und reden über den Tag, daneben gibt es eine kleinere, noch heissere Quelle. Das Abwechseln zwischen heissem und kaltem Bad gibt einen guten Ausgleich. Es gibt auch Badefässer, in welchen man die Füsse raushängen lassen kann. Nach ungefähr eineinhalb Stunden verlasse ich zufrieden das Bad, das Schöne: Der ganze Besuch hat nur 5.50 CHF gekostet.
Es ist heiss, nicht wahr?
Der japanische Sommer ist brutal. Wie heiss und feucht es in Japan ist, begreife ich erst, als ich es erlebe. Um die Hitze zu überstehen, rüste ich mich entsprechend aus. In jedem Konbini findet man Sonnenschirme, die auch als Regenschirme dienen, da besonders in der Regenzeit im Juni und Juli der Regen sehr plötzlich und stark auftreten kann. Temperaturen von bis zu 35 Grad sind normal, doch das wirkliche Problem ist die Luftfeuchtigkeit. Beim Verlassen des Hauses bildet sich sofort ein Schweissfilm auf der Haut, den ich nicht mehr loswerde, bis ich ein klimatisiertes Gebäude betrete. Zusätzlich zum Schirm nehme ich einen kleinen Handventilator, eine grosse Flasche Wasser, ein Schweisstuch und eine Sonnenbrille mit.
Die Japaner:innen mögen die heissen Temperaturen überhaupt nicht. Helle Haut gilt als besonders schön, weswegen besonders Japanerinnen alles daransetzen, dieses Ideal zu erreichen. Deswegen tragen sie oft lange Röcke, Armstrümpfe und UV-Masken, welche das gesamte Gesicht unterhalb der Augen und den Hals bedecken.
Auch als Gesprächsstoff dient die Hitze. Nach einer Wanderung an der Küste, drei Stunden von Tokio entfernt, begrüssen mich gleich zwei ältere japanische Personen mit den Worten «atsui desu ne?», was so viel bedeutet wie: Es ist heiss, nicht wahr?
Zugang durch Sprache
Ich sitze in einem Café und trinke eine Hafer-Schokoladenmilch, zuvor habe ich auf Japanisch bestellt. Die zwei Angestellten beginnen ein Gespräch mit mir und sind erstaunt darüber, dass ich Japanisch spreche. Sogleich bekomme ich zu hören: «Nihongo jouzu!». Das bedeutet, mein Japanisch sei gut. Dieser ermutigende Zuspruch erhalte ich bereits nach wenigen auf japanisch geäusserten Worten. Ein japanischer Tourguide möchte ein Foto mit mir machen, ebenso eine Japanerin, welche ich in einem Hostel angetroffen habe. Die Neugierde und Freundlichkeit und die Bereitschaft, mit mir reden zu wollen, geben mir das Gefühl, willkommen zu sein.
10 Wochen später dränge ich mich abermals mit meinen Koffern durchs Gewimmel am Bahnhof von Ikebukuro. Nur überfordern mich die Eindrücke nun nicht mehr. Rechts um die Ecke steht mein Lieblings-Mini-Croissant-Laden. Im Untergeschoss des Bahnhofs ist der Kroketten-Stand, den ich gerne mag. Ein wenig traurig bin ich, diesen Ort verlassen zu müssen. Aber eines weiss ich: Die Frage ist nicht, ob, sondern wann ich wiederkommen werde.
«Atsui desu ne?»