Wer träumt nicht davon, einmal in den Tropen zu leben? Cocktails schlürfen und die Füsse aus der Hängematte baumeln lassen – so habe ich mir mein Austauschsemester in La Réunion vorgestellt. Aber auch das Paradies hat seine Schattenseiten. Ein etwas anderer Erasmus-Bericht.
Text & Fotos: Nanina Studer
Die Ankunft auf La Réunion ist atemberaubend. Der Landeanflug führt über türkisblaues Wasser an schroffen Bergspitzen vorbei. Die Landung im Paradies ist jedoch härter als erwartet. Bei der Informationsveranstaltung für die frisch vom Festland eingeflogenen Erasmus-Studierenden wird mir klar, dass das Leben auf der Insel nicht nur aus Cocktail-Schirmchen und Dolce Vita besteht. Spätestens als der extra eingeladene Polizeichef das Wort ergreift, wache ich aus meinem Traum auf: Frauen sollen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht alleine draussen aufhalten. Eine anwesende Professorin doppelt nach: Sie sei abends schon bis vor ihre Haustür verfolgt worden. Doch auch tagsüber bietet die Insel ein paar unangenehme Überraschungen, wie ich bei meinem ersten Ausflug an den Strand feststellen muss.
Schweissflecken im Gesicht
Normalerweise langweile ich mich am Strand. Nicht so auf La Réunion. Hier ist schon die Anfahrt aufregend. Denn wer denkt, der Badestrand sei von der Uni aus gleich um die Ecke, der irrt sich gewaltig. Die Fahrt im Bus dauert etwa eine Stunde. Der Weg zum Strand führt aus der Hauptstadt Saint-Denis an die Westküste nach Saint-Gilles. Aber erst muss man sich einen Platz erkämpfen, denn da der Bus über die Autobahn fährt, darf nur mit, wer sitzt. Zusätzlich zur Fahrzeit geht also noch eine gute Viertelstunde fürs Anstellen drauf. Während man also in der brennenden Sonne auf den Bus wartet, drücken einem alte Männer ihre Schweissflecken ins Gesicht. Mit etwas Glück kriegt man dazu noch eine Portion Rassismus mit auf den Weg. Das klingt je nach Hautfarbe etwas anders, ist jedoch unabhängig davon unangenehm. Ich werde beim Warten unfreiwillige Zeugin einer Hasspredigt gegen schwarze Frauen, lauthals verkündet von einer verlebten Festlandfranzösin. Sie findet, weisse Französinnen seien grundsätzlich intelligenter. Ihre blosse Erscheinung widerspricht dieser Aussage.
Blick über die Schulter
Die Strapazen der Anfahrt haben sich gelohnt. Geschützt hinter den Korallenriffen der Westküste kann man Hai-frei entspannen, im lauwarmen Wasser schwimmen und mit bunten Fischen schnorcheln. Fast ohne Bedenken. Denn ob wirklich keine Haie in die Lagune kommen, darüber sind sich selbst die Réunionaisen nicht einig. Es bleibt einem der gelegentliche Blick über die Schulter. Realer als die Haiattacken im Wasser sind die Anmachsprüche der Kreolen an Land. Im Extremfall sitzt plötzlich ein fremder Mann neben mir, der partout nicht von meinem Strandtuch abrücken will. So ist der Bademeister plötzlich mehr damit beschäftigt, sich mit meinem ungewollten Verehrer zu prügeln, als nach Haien Ausschau zu halten.
Wellen statt Wale
Wer weder am noch im Wasser sein Glück findet, der kommt auf dem Wasser auf seine Kosten. Genauer gesagt, der lässt sich von seiner Mitbewohnerin mit Bootsführerschein auf einen Ausflug einladen. Auf diesen Ausflug freue ich mich sehr, denn von Juni bis September sollen vor der Küste La Réunions Buckelwale zu sehen sein. Ich starte also um vier Uhr morgens, um mit einer Gruppe Meeresbiologen Walen nachzujagen. In einem gemieteten Schlauchboot legen wir ab. Die Insel im Licht der aufgehenden Sonne zu sehen, ist einer der schönsten Augenblicke meines Aufenthaltes. Für ein paar Minuten treiben wir vollkommen ruhig auf dem Indischen Ozean. Umgeben von Möwen und Wasserschildkröten, die Insel in goldenes Licht getaucht. Doch dann heizt meine Mitbewohnerin den Motor an und die restlichen fünf Stunden auf See ist mir sterbensübel. Auf dem Indischen Ozean sind die Wellen eben etwas grösser als auf dem Zürichsee. Die Wale blieben unserem Boot jedoch auch nach fünf Stunden Qual fern. Auf dieser Insel läuft einem eben so ziemlich alles nach, ausser den Buckelwalen. Nur gerade zehn wurden in der ganzen Saison gesichtet, und die sind lieber für sich geblieben.
Frühstück für die Hunde
Weitaus grösser ist die Zahl der Strassenhunde, oft ausgesetzte Weihnachtsgeschenke. Sie sind überall auf der Insel. Sobald man sein sicheres Zuhause verlässt, muss man darauf gefasst sein, einer wilden Meute zu begegnen. Für den Gang zum Bäcker habe ich seit meinem Baguette-Zwischenfall einen Schlachtplan. Bei meiner ersten Begegnung mit dem Quartierrudel war ich mit einem noch warmen Baguette unterwegs, meinem Frühstück. Angesichts gebleckter Hundezähne rückte dieses jedoch in den Hintergrund. Um meine Waden zu retten, musste mein Brot dran glauben. Ablenkungstaktik. Ich warf mein Baguette vor die Hunde und machte mich aus dem Staub. Seither kaufe ich zwei Baguettes, eins für mich, eins für die Hunde. Sicher ist sicher. Ausserdem erledige ich meine Einkäufe fortan woanders, die Ecke der Bäckerei kommt auf die schwarze Liste dubioser Orte.
Kein Erasmus-Bonus
Der Campus hätte ebenfalls einen Platz auf dieser Liste verdient. An einer Uni, an der Autos gestohlen und Studentinnen verfolgt werden, fühlt man sich trotz Sicherheitskontrolle nicht immer sicher. In der Cafeteria werden Drogen offen auf dem Tisch gedealt. „Zamal“ nennen die Kreolen ihr Marihuana. Das Klima auf der Insel ist für den Anbau perfekt, heiss und feucht. Wegen der Hitze sollten auch alle Vorlesungsräume ohne Klimaanlage auf meiner schwarzen Liste stehen. Leider gilt für meine Kurse Anwesenheitspflicht. Auch sonst fühle ich mich öfters an meine Schulzeit erinnert. Der Medienstudiengang besteht aus 25 Studierenden. Die Professoren kennen alle Namen, wer seine Aufgaben nicht gemacht hat, fällt auf. Nach gymnasialer Manier gibt es in jedem Fach wöchentliche Hausarbeiten, dazu Prüfungen im Semester. Den berüchtigten Erasmus-Bonus vergeben die Medien-Profs nicht. In meiner ersten Prüfung erziele ich eine wahre Glanzleistung: 3.5 von 20 möglichen Punkten. Prüfungsstoff sind réunionesische Politik und Allgemeinbildung. Ich habe keinen Plan, da ich erst einige Wochen auf der Insel bin. Trotz schlechter Note bleiben die Professoren freundlich. Die meisten von ihnen sind kompetent, gestalten den Unterricht aber ganz nach kreolischer Art locker und relaxed. Zuspätkommen wird toleriert, nicht selten sind die Professoren selbst spät dran. Die Pausen sind meistens grosszügig angelegt – ein grosser Pluspunkt der Uni. Ebenso der Meerblick aus der Bibliothek.
Fotos: Nanina Studer