Mein liebes Nani. Ich sehe dich vor mir, eingefallen, traurig und lethargisch. Was ist passiert? Du, die du dich nach der Pensionierung aktiv in einem Behindertenheim als Betreuerin engagiertest und uns zum Mittagessen Fischstäbchen gekocht hast. Jetzt bist du mir so fern, als lebtest du in einer anderen Welt. Der Schleier des Vergessens hat sich über dich gelegt. Die Krankheit Alzheimer hat von dir Besitz genommen.
Wenn ich zurückdenke und mich frage, wann das alles begonnen hat, weiss ich keine Antwort. Langsam schlich sich die Krankheit in dein Leben. Da ein vergessener Termin und dort ein verdrehtes Wort. Aber das ist im Alter ja normal, denkt man sich. Neurologisch gesehen war die Krankheit jedoch schon viel früher da. Bevor du etwas ahnen konntest, begann sie mit Ablagerungen des Amyloid-Vorläuferproteins in der grauen Hirnsubstanz. Diese Ablagerungen werden in der Fachsprache Plaques genannt. Wenn eine kritische Grenze an Plaques überschritten wird, beginnt die Prädemenzphase. In dieser Zeit kommt es zu gelegentlichen kognitiven Ausfällen.
Ab wann ist das Vergessen kein normaler Lapsus mehr, sondern Zeichen der Krankheit?
Die Betroffenen werden Meister im Überspielen der Gedankenausfälle. Auch du, Nani, hast dir gewisse Standardsätze wie „Ich habe vor lauter lesen die Zeit vergessen“ zugelegt. Ich verstehe dich. Erst durch dich ist mir aufgefallen, wie sehr Gespräche von Vergangenem geprägt sind. „Was gab es zum Abendessen bei deiner Schwester?“ und „Was habt ihr davor unternommen?“. Alles Fragen, auf die du nur noch schwer eine Antwort fandest. Auch für mich wurde es schwieriger, auf dich zuzugehen. Denn was soll ich sagen, wenn meine Gesprächspartnerin auf alltägliche Fragen nicht antworten kann?
Ich stelle mir dein Gehirn vor. Dort ist so einiges im Gange: Zu viele Amyloid-Proteine werden gebildet, sie schaden deinen Gehirnregionen für Erinnerung und Kognition. Zudem geht die Wissenschaft von einer Synapsen-Dysfunktion aus. Das bedeutet, dass die Informationsübertragung in verschiedenen Arealen des Gehirns gestört ist. Zudem degenerieren die Neuronen, die Elementarbausteine des Gehirns. Ob dies in allen Einzelheiten stimmt, ist bis heute nicht geklärt. Aber mir wurde bewusst, wie dein Hirn gegen dich arbeitet. Und du dies einfach hinnehmen musst.
Was definiert mich, wenn meine Gedanken und Erinnerungen verschwinden?
Das musst du dich sicherlich gefragt haben. Und ich glaube, du hast bis heute keine Antwort. So jedenfalls erkläre ich mir deine Antriebslosigkeit. Dich in diesem elenden Zustand zu sehen, tut weh. Und gleichzeitig spornt es mich an, dich wenigstens für ein paar Minuten glücklich zu machen. Mit dir zu lachen und herumzublödeln. Das kannst du noch immer sehr gut. Ich erinnere mich an einen lustigen Abend, als du mit einem Stäbchen das Sushi aufgespiesst und dich lautstark über die salzige Suppe beschwert hast. Bis wir bemerkten, dass du die Sojasauce als Suppe getrunken hattest.
Die Beziehung zu dir wurde zu einem einseitigen Geben. Ich musste lernen, dass du es nicht böse meinst, wenn du dich weigerst, die Hilfe der Spitex anzunehmen oder Termine für Gedächtnistraining oder allgemeine Aktivierung einfach absagst. Du wirst immer mehr zu einem Kind, das mir direkt kommuniziert, was es will und sich weigert, zu tun, was es gar nicht mag. Meistens möchtest du dich lieber deiner depressiven Stimmung hingeben, als dich aufzuraffen. Ich habe das Gefühl, für dich hat alles keinen Sinn mehr.
Gibt es Hoffnung?
Im Nachhinein fragt man sich immer, ob man die Krankheit hätte verhindern können. Doch das Schlimme an Alzheimer ist, dass es bis heute keine wirklich wirksamen Medikamente oder Therapien gibt. Deshalb betreibt beispielsweise die Universität Zürich intensiv Alzheimerforschung. Gefunden haben sie Aducanumab, einen menschlichen Antikörper, der sich an die Eiweissablagerungen bindet und diese reduziert. Noch ist aber zu vieles unklar, um von einem Durchbruch zu sprechen. Für alle Betroffenen und Angehörigen bleibt zu hoffen, dass bald ein Licht aufgeht im Kampf gegen das Vergessen.