Wir leben in einer Gesellschaft, in der Gewaltverbrechen einen Aufschrei auslösen und in der die Erfahrung von Gewalt am eigenen Körper zum Glück unüblich geworden ist. Warum ist Gangsterrap trotzdem so beliebt?

Seine Fans hat Gangsterrap schon lang nicht mehr nur auf der Strasse in Plattenbauschluchten, wo das Leben so hart wie Asphalt ist, wie es die Texte gerne hätten. Nein, mittlerweile bringt er auch die fitnessstudiodesignten Körper von Maturandinnen und Maturanden mit Elterbeiratsmutter zum Beben oder konkurriert bei Germanistikstudierenden mit Günter Grass’ „Tagebuch einer Schnecke“. Woher rührt die Faszination für getaktete Gewaltfantasien von Leuten, die es eigentlich besser wissen sollten?

Die erste Antwort, so simpel wie klischeehaft, liegt auf der Hand: Die martialische Musik erlaubt den (zumeist jungen und männlichen) Fans ein Gefühl der Stärke und Überlegenheit und überdeckt für ein paar Minuten die tieferliegende Unsicherheit und Angst vor Unzulänglichkeit. Sie dient ausserdem als Ventil für allerlei Arten der Frustration und Aggression. Es ist eine alte Frage: Kann man all den Mist endlich mal raus- und damit verpuffen lassen oder gibt man ihm im Gegenteil mit jeder Sekunde, die man ihn zulässt, neue Nahrung?

„Ich werd’ dich halten wie ’nen Hund‘‘

Doch Gangsterrap ist mehr als begleitete Aggressionstherapie. Krass – um im Gangsterslang zu bleiben – gesagt, steht Gangsterrap für all das, was heute verpönt ist: Er ist fast immer frauenfeindlich, manchmal antisemitisch und giert nach schnellem Reichtum, schnellen Autos und Dauerdröhnung. Es ist leicht, Gangsterrap schlecht zu finden. Doch seine Faszination liegt eben genau in der Grenzüberschreitung. Sachen zu sagen und Dinge zu tun, die nach allgemeinem Konsens nicht okay sind, hatte schon immer seinen Reiz. Konfrontiert mit den vielen Moral- und Werteverstössen in ihren Texten, beschwichtigen die Gangster oft: Sie meinten das nicht ernst, es sei ein Spiel, im echten Leben würden sie Frauen doch respektieren. „Immerhin hat es für acht Beziehungsjahre gereicht“, sagt Bushido, der an anderer Stelle rappt, er wolle „dich halten wie ’nen Hund‘‘. Ein weiblicher Fan im Interview stimmt zu, es werde alles zu sehr hochgekocht, in der Musik dürfe man das, solange es in der Musik bleibe.

Worum also, wenn nicht um Botschaften, geht es dann? Um Spass? Macht es Spass,für den Zeitraum eines Konzertes frauenfeindlich und allgemein menschenverachtend zu sein? Ist diese Frage schon zu politisch korrekt? Braucht es manchmal eine Auszeit von Moral und sogenanntem „Gutmenschentum“, eine berechnete, betreute Barbarei sozusagen? Um dann den Off-Knopf zu drücken und sich wieder an der Supermarktkasse hintenanzustellen?

Es sind ja nicht nur die Bushidos, Kollegahs und Farid Bangs. Genauso kann man die neue Popularität von Kampfsportarten in diese Reihe stellen. Oder auch jene Menschen, die für eine Rückbesinnung auf alte Regeln auf die Strasse gehen, für ihr Recht auf tägliches Fleischessen und Biertrinken. Die ihren Widerwillen gegen eine Welt zum Ausdruck bringen, die zunehmend zur gewaltfreien Kommunikation, zur Mediation und Diplomatie zwingt, zu Verständnis, Empathie, Liebe, die jeden aggressiven Impuls sofort als destruktiv verteufelt. Wohin mit den Aggressionen? Wo in unserer hochzivilisierten Gesellschaft haben sie ihren Platz?

Männerfantasien

Offensichtlich ist, dass Gangsterrap das traditionelle Männerbild wiederbelebt. Ein Mann muss stark sein, ein Herz aus Stein besitzen, er muss sich durchsetzen können und darf sich keinen Augenblick der Schwäche zugestehen. In einer Zeit der widersprüchlichen Anforderungen an Männer genauso wie an Frauen – entfalten solche einfachen Rollenbilder erst recht ihren Reiz. Und man darf und muss das kritisieren.

Und doch steckt hinter jener Orientierungslosigkeit junger Männer vielleicht noch mehr. Diese zivilisierte Gesellschaft ist auch eine Gesellschaft, in der traditionell mit Männern assoziierte Eigenschaften wie Körperkraft, Rationalität vor Emotionalität und die Lust auf Austoben eher fehl am Platz sind und als kindisch, unreif und im schlechtesten Fall physisch verletzend in Verruf geraten sind. Und exakt diese Qualitäten zelebriert der Gangsterrap.

Interessanterweise nimmt in den letzten Jahren der Anteil der weiblichen Fans zu. Mittlerweile haben sich auch Gangsterrapperinnen einen Namen gemacht, zum Beispiel Cardi B. Die gleichen Drohgebärden, rausgeworfenen Geldscheine und SUVs wie immer, nur eben von einer Frau. Ihr Video „Bodak Yellow” hat über 660 Millionen Klicks. Der Wunsch, Gangster zu sein, ist nicht männlich. Alle dürfen ihn haben – zumindest für die Dauer des Tracks.

Text: Johannes Rohwer

Foto: wikimedia commons