Ein Gespräch mit Amir Dziri

 

Die Abstimmungen im vergangenen Frühjahr haben gezeigt: Themen rund um den Islam beschäftigen und die Debatten dazu werden hitzig geführt. Spectrum hat mit Amir Dziri, dem Direktor des Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft, über aktuelle Kontroversen und Ängste gesprochen und gefragt, ob Religion einen solchen Wirbel wert sei.

 

Amir Dziri, verstehen Sie die Angst vor dem Islam?

Ja, aber ich glaube, dazu gehören mehrere Aspekte. Das lateinische Christentum und der muslimische Orient haben sich über Jahrhunderte hinweg oftmals in Abgrenzung zueinander definiert. Diese historische Erinnerung wirkt hier beidseitig nach. Ausserdem stelle ich in den Debatten fest, dass offensichtliche Missstände in muslimischen Gesellschaften direkt auf den Islam als Ursache zurückgeführt werden. Es gibt über sechzig verschiedene muslimische Länder, aber man orientiert sich in der «Islamdebatte» weitgehend an den Negativbeispielen. Auf einer weiteren Ebene haben wir reale Konflikte des Zusammenlebens. Hier geht es um unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen, die religiös, ethnisch oder kulturell begründet sind. Das sind oft intime und sensible Konflikte, welche etwa die Sexualmoral oder Rollenbilder betreffen. Solche Konflikte sollten aber nicht grundsätzlich als etwas Negatives angesehen werden, sondern als ein Prozess, der sich lösen und klären lässt. Man sollte es also nicht verteufeln, dass Menschen Ängste haben. Stattdessen sollten wir ins Gespräch kommen.

 

Könnte es auch sein, dass die nicht-muslimische Bevölkerung der Schweiz, keine Ahnung hat vom Islam?

Ich glaube ein Stück weit, ja. Ich würde auch von einem starken Fehlen an Erfahrungen des Zusammenlebens mit Muslim*innen sprechen, wenn zum Beispiel angenommen wird, dass alle Muslim*innen gleich stark gläubig sind. Schwierig ist auch das Absprechen von Eigenkompetenz, wenn man etwa denkt, dass Muslim*innen keine eigene Entscheidungsverantwortung haben und blind das machen, was im Koran steht. Hin und wieder kommt es auch vor, dass es nicht an fehlender Sachkenntnis liegt, sondern an einer gewissen Haltung in der menschlichen Begegnung.

 

Wird mit dem Etikett «Islam» viel zusammengefasst, was gar nicht zusammengehört?

Das ist ein grosses Problem in der Debatte. Islam ist zu einer Projektionsfläche geworden, auf der man  fassen kann, was man will. Egal ob Migration, Kapitalismuskritik, Feminismus oder Fragen nach kulturellen Werten. Ausserdem ist der Islam auch ein politischer Treiber, der zur Profilierung genutzt wird. Bis in die 1900er Jahre war es die Migrationsthematik, damals sprach man vornehmlich von den «Jugos». Jetzt haben wir mit dem Islam ein neues Etikett.

 

Sie haben von einer Projektionsfläche für Ängste, Frust und gesellschaftliche Fragen gesprochen. In diesem Jahr wurde über die Verhüllungs-Initiative abgestimmt. Auch das sorgte für emotionale Auseinandersetzungen. Wie könnte der Diskurs auf konstruktiver Ebene geführt werden?

Ich war selbst stark in der medialen Debatte präsent. Auch bei mir machte sich eine Ernüchterung breit, weil die Diskussion kaum sachlich geführt wurde. Es gibt bei Streitfragen immer gute Argumente dafür und dagegen, aber gewisse Sachstände wie dass es zum Beispiel bei der schweizer Burka-Initiative nicht darum gehen sollte zu beurteilen, was in Afghanistan oder Saudi-Arabien schief läuft, sind nicht durchgedrungen. Der Konsens in unserer Gesellschaft ist ja, dass jede*r so leben kann, wie er oder sie will, solange man anderen damit nicht schadet. Was aber macht man jetzt mit jenen Frauen, die glaubhaft machen können, dass sie den Niqab freiwillig anziehen und kein Ehemann und keine Gruppe dahintersteht?

 

Soll eine Organisation die muslimische Bevölkerung in Zukunft medial vertreten?

Die Beteiligung an der öffentlichen Diskussion ist vielfältiger geworden und auch muslimische Stimmen werden stärker wahrgenommen. Man sieht also, da passiert schon etwas. Viele Zeitungsredaktionen sind bemüht, muslimische Stimmen einzuholen, also bei muslimischen Gemeinden, Verbänden und Organisationen, aber auch bei Einzelpersonen. Das ist gut, weil es gesellschaftliche Perspektiven auf Streitthemen breiter abbildet.

 

Wo sieht sich das Schweizerische Institut für Islam und Gesellschaft in dieser Debatte? Welche Rolle möchte es einnehmen?

 

Das Institut ist eine Anlaufstelle für gesellschaftliche Fragen. Die Abstimmung zum Verhüllungs-Verbot war eine solche Frage, deswegen wurde unsere fachliche Expertise dazu auch angefragt. Es ist für die Aushandlung von Konflikten wichtig, dass auch solche Perspektiven, die noch nicht Eingang in den Diskurs gefunden haben, Raum erhalten. Viele muslimische Gemeinden haben keine professionelle Pressestelle. Wenn wir also die Sichtweise von Betroffenen erfahren und diese dann artikulieren können, sehe ich das als eine wichtige Aufgabe an. Uns erreichen aber auch Zuschriften aus der Schweizer Bevölkerung, die sagen, der Islam generell mache ihnen Angst. Wir versuchen letztlich, unterschiedliche Stimmen zusammenzubringen und so eine Scharnierfunktion einzunehmen. Das Phänomen der «Echo-Groups», wo also jede Gruppe nur unter Gleichgesinnten argumentiert und sich bestärkt, möchten wir aufbrechen.

 

Amir Dziri, Direktor des Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft und Professor für Islamische Studien.

 

Denken Sie, dass der überwiegende Anteil der muslimischen Bevölkerung in der Schweiz, welcher nicht Extrempositionen vertritt, sich vermehrt Gehör verschaffen sollte?

Das ist schwierig. 90% der muslimischen Bevölkerung wollen eigentlich nur ihrer Arbeit nachgehen, ein Dach über dem Kopf und eine Familie haben. Eben so leben, wie alle anderen auch. Diese Personen fragen sich also, warum sie sich abends nach sieben noch politisch engagieren müssen, um zu verhindern, dass sie diskriminiert werden. Das soll nicht heissen, dass Engagement nicht wichtig sei. Aber es braucht auch den Einsatz der Privilegierten.

 

Würde also eine zentrale Organisation der muslimischen Bevölkerung Druck von den Einzelnen nehmen?

Das ist eine wichtige Frage. Das Problem ist nur: Die Organisation der muslimischen Religion ist historisch nicht von zentralen Strukturen geprägt, sondern funktioniert eher über Diskurs und Kommunikation. Es gibt beispielsweise kein religiöses Oberhaupt, das Dogmen festlegt. Ich denke es macht wenig Sinn, den Islam in einer einzigen Organisation bündeln zu wollen – ich mag die Vielseitigkeit der Stimmen.

 

Was genau verstehen Sie unter einem «europäischen Islam»?

Man soll nicht mehr nur europäisch oder muslimisch sein können. Solch unterschiedliche Identitäten sollen sich nicht mehr ausschliessen. Allerdings wurde eine solche Opposition in den letzten Jahren stark medial konstruiert. Es geht darum, den Menschen die Perspektive zu bieten, dass sie unterschiedliche Merkmale ihrer Biografie zusammendenken können, ohne dabei auf etwas zu verzichten, das ihnen wichtig ist. Das ist die wichtigste Grundidee des europäischen Islams. Dazu gehört auch eine Gesamtgesellschaft, die das muslimisch sein nicht per se problematisiert, sondern zugesteht, dass es Möglichkeiten gibt, muslimisch und schweizerisch zu sein. Auf der anderen Seite soll man den muslimischen Gemeinden ein Rüstzeug für die Lösung theologischer Grundfragen an die Hand geben, damit diese zu vereinbaren sind mit dem kulturellen Kontext, in dem sie leben.

 

Zu guter Letzt: Ist ihnen die Religion diesen ganzen Wirbel wert?

Ein bisschen weniger Islam wäre manchmal vielleicht gut (lacht). Ich wollte mal einen Artikel darüber schreiben, was passiert, wenn gerade mal keine Islamdebatte herrscht. Einerseits sind solche Kontroversen berechtigt. Manche Religionsforscherinnen sagen, dass sich seit Luther keine neue Religion mehr institutionalisiert hat in Europa. Das hat also durchaus historische Bedeutung. Andererseits wünscht man sich, dass nicht alles so heiss gekocht wird und Religion im Allgemeinen auch einmal entspannter angegangen werden würde. Europa wandelt sich immer mehr zu einer areligiösen Gesellschaft. Da ist es angemessen, die Frage zu stellen, welchen Platz Religion in einer säkularen Gesellschaft in Zukunft haben kann – und die ist nicht einfach zu lösen.

 


Schweizerisches Institut für Islam und Gesellschaft (SZIG):

Das interfakultäre Institut, welches 2015 gegründet wurde, fördert die Auseinandersetzung mit dem Islam im Kontext der Schweiz. Es arbeitet an der Schnittstelle von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion und ermöglicht eine akademische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen aus muslimischer Perspektive.

Das Zentrum bietet Raum für den Dialog und leistet somit einen Beitrag zum Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft. Im Rahmen der Philosophischen Fakultät bietet es das interdisziplinäre Masterprogramm «Islam und Gesellschaft» an.

Text: Matthias Venetz / Corina Dürr
Foto: Corina Dürr