Klassische Musik ertönt durch meine Kopfhörer. Ich laufe durch die Finsternis. Meine Schritte werden schneller, ich fühle mich verfolgt. Trotz der Paranoia formt sich ein finsteres Lächeln auf meinen Lippen.

 

Die Faszination für das Böse, das Düstere, Unbekannte oder für die melodramati- sche Darstellung des Gewöhnlichen ist ein uns allen bekanntes Phänomen. Wir können damit in eine Welt des Unerklärlichen und der endlosen Fantasie eintauchen.Buchliebhaber*innen kennen dieses Gefühl be- sonders gut. Im Englischen nennt sich das «escapism», im Deutschen «Eskapismus» oder auch Realitätsflucht vor dem, was im alltä lichen Leben ausgehalten wird.

Glücklicherweise erkannten Autor*innen wie Horace Walpoe die Liebe zum Unerklärlichen gekoppelt mit einem Wunsch nach dem Eintauchen in eine andere Welt. Mit seinem weltbekannten Werk The Castle of Otranto gilt Walpoe als ein Pionier der gotischen Literatur, obwohl er den Begriff «gothic» vermutlich eher als Witz in den Untertitel schrieb. Die Geschichte ist eine bizarre Mischung aus Mediävistik und Terror, geschmückt mit übernatürlichen Elementen und einem Setting, welches einem treuen Fan der Schauerliteratur ein Lächeln ins Gesicht zaubert: Ein altes, gotisches Schloss, das von irgendeiner Kreatur oder einem Gespenst heimgesucht wird, mit Türen, die sich selbst schliessen, Bilder, die sich von allein bewegen und gruseligen Geheimgängen.

Das Setting als Protagonist

Protagonist in der Schauerliteratur ist, wie auch beim Werk von Horace Walpoe, das Setting: Sei es ein verlassenes Schloss, ein nebliger Friedhof oder eine kaum beleuchtete Strasse mitten in der Altstadt. Die Umgebung hat in Büchern der gotischen Literatur einen eigenen Charakter und gibt die Richtung an, in welche die Geschichte gehen soll. Sie soll den Lesenden ein Gefühl der Angst und des Schreckens, der Melodramatik und der Spannung vermitteln. Dies vor allem durch eine düstere und malerische Darstellung des Settings. Dementsprechend spielt auch die gotische Architektur mit den typischen Strebebögen und grossen Fenstern eine zentrale Rolle im Genre.

Ebenfalls bedienen sich die Autor*innen an Elementen, die aus den meisten Klassikern der Schauerliteratur nicht mehr wegzudenken sind. Ein Beispiel ist das Übernatürliche: So etwa Graf Dracula, der blutsaugende Vampir oder das von Victor Frankenstein zusammengebastelte Monster. Des Weiteren sind Geister oder geisterähnliche Gestalten in vielen Erzählungen wiederzufinden. Autor*innen der gotischen Literatur müssen zudem ein Händchen dafür haben, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Die Lesenden sollen gefesselt sein vor Angst und dem Drang wissen zu wollen, wie die Geschichte weiter geht. Hierzu werden beispielsweise Omen, also Vorhersagungen von schrecklichen Ereignissen in Träumen, verwendet.

Die emotionale Beschreibung der Geschichte sowie Figuren versetzt Leser*innen in eine andere Welt und erzeugt eine geheimnisvolle Atmosphäre. Ein weiteres zentrales Merkmal ist das Leiden und die Schwermut der Hauptfigur, die meist gegen eine böse Macht kämpft und mit der man durch tragische Ereignisse und Schicksalsschläge mitfühlt. Dieser gegenüberstehend ist der Bösewicht, der Anti-Held, der es nicht sel- ten auf die jungfräuliche und naive künftige Ehefrau des Protagonisten abgesehen hat. Somit spielt auch die Romantik und die tiefgründigen Beziehungen zwischen den Figuren eine äusserst wichtige Rolle in der Schauerliteratur.

 

 

Frankensteins Monster – Oder doch nicht?

Ein allbekanntes Beispiel der Schauerliteratur ist «Frankenstein» von Mary Shelley. Ein Monster, welches durch einen abenteuerlustigen und intelligenten Schüler namens Victor Frankenstein aus Neugierde und Liebe zur Wissenschaft kreiert wurde. Schliesslich wird Victor bewusst, wen oder was er da ins Leben gerufen hat und rasch bereut er seine Tat. Doch es ist bereits zu spät, denn das Monster hat sich auf den Weg gemacht und strebt, nachdem es monatelang Menschen beobachtet hat, nur nach einem: Zugehörigkeit. Durch sein grässliches Aussehen, seine vielen Narben und seine überdurchschnittlich grosse Statur erweist sich das aber als unmöglich. Die Menschen fürchten Frankensteins Monster und schnell wird ihm die Oberflächlichkeit der Menschheit bewusst. Völlig ermüdet, frustriert und überfallen von einer tiefen Trauer entscheidet er sich, sich an seinem Schöpfer zu rächen.

Als der Roman 1818 erscheint, war die Autorin Mary Shelley knapp zwanzig Jahre alt. Dabei ist nicht nur die Geschichte selbst faszinierend, sondern auch deren Entstehung. Laut dieser Geschichte liess sich Mary Shelley mit dem weltberühmten englischen Poeten Lord Byron und ihrem zukünftigen Ehemann Percy B. Shelley auf einen Wett- bewerb ein: Während ihrem Aufenthalt in Genf sollten sie alle eine Horrorgeschichte schreiben und eine*n Gewinner*in küren. So entstand «Frankenstein»: Ein Meisterwerk der Romantik, der Schauer- sowie Science-Fiction-Literatur.

Auch Mary Shelley baute viele klassische Elemente der Gotik ein: Einerseits Victor Frankenstein, der sein Leben damit verbringt seine Kreation zu bereuen und von diesem tragischen Ereignis verfolgt wird und auf der anderen Seite das Monster, das sich an ihm und seinen Geliebten rächen will. Anders als in anderen Klassikern der Schauerliteratur eröffnet der Leidensweg des Bösewichts die Möglichkeit, Sympathie für das Monster zu empfinden und es nicht als grundlegend böse anzusehen. Ausserdem erzeugen die Mono- wie auch Dialoge durch eine sehr emotionale Sprache beim Lesenden ein Gefühl des Mitleidens, der Schwermut und der Melodramatik.

Dracula und der Immobilienmarkt

Ein weiterer Klassiker ist der Roman «Dracula» von Bram Stoker, welcher im Jahr 1897 erschien und bei vielen als «der» Vampir bekannt ist. Die Geschichte, welche durch zahlreiche Tagebucheinträge der Hauptfiguren aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, handelt vom jungen britischen Anwalt Jonathan Harker. Dieser reist für einen ausländischen Kunden nach Transsylvanien, um einen Immobilienkauf zu besprechen.

Den Kunden, auch bekannt als Graf Dracula, zieht es schon seit langem nach London. Während seinem Aufenthalt im Schloss Draculas fallen Harker immer mehr seltsame Begebenheiten auf. Doch der Höhepunkt ist der Moment, als er beobachtet, wie Dracula wie ein Insekt die Wand des Schlosses herunterklettert. Bei dieser schaurigen Reise zieht es die Leser*innen erneut in ein für die Schauerliteratur typisches Setting: Ein riesiges Schloss, in dem sich Türen nicht öffnen lassen und sich anscheinend Personal befinden soll, welches Jonathan Harker seltsamerweise nie zu sehen bekommt.

Bram Stoker spielt ähnlich wie Mary Shelley mit den klassischen Elementen der gotischen Literatur. Die meisten Handlungen spielen sich in der Nacht ab, sei es im Hof des Schlosses bei Vollmond oder auf dem verlassenen Friedhof. Mit der gefühlvollen Sprache in den Tagebucheinträgen sollen Leser*innen die tiefen Beziehungen zwischen den Figuren erkennen und so mit ihnen mitfühlen und mitleiden. Beispiels- weise als eine geliebte Figur von Dracula gebissen wird und die Freunde eine fürchterliche Entscheidung treffen müssen.

Über Dracula schrieb Stoker: «He can see in the dark, no small power this, in a world which is one half shut from the light.» Die Schauerliteratur gibt uns die Möglichkeit, in eine Welt voller düsterer und dunkler Romantik, Spannung und Faszination einzutauchen. Doch wie Dr. Van Helsing in Dracula hervorhebt: Im Dunkeln zu sehen verleiht uns Macht. So, do you want to see in the dark too?

 

Text: Maria Papantuono

Illustration: Emanuel Hänsenberger