Was ist Aberglaube? Wie unterscheidet er sich von Religion? Ein Überblick über hundert Jahre chinesische Religionspolitik.
In der dritten Klasse fragte mich ein Klassenkamerad, ob meine Familie protestantisch sei. Als ich verneinte, rief er erschrocken: «Bist du denn abergläubisch?» Für ihn existierten nur zwei Möglichkeiten: protestantischer Glaube oder Aberglaube. Der Aberglaube bildet das dunkle Gegenstück zur Religion. Auch in China wurde er als gefährlich und rückständig dargestellt. Wenn er nicht verboten wurde, dann stark eingeschränkt. Doch wie kommt es, dass mein alter Klassenkamerad und Mao Tse-tung ein ähnliches Konzept von Aberglauben hatten?
Das Erbe der Opiumkriege
Die Geschichte des Aberglaubens in China beginnt in der Kaiserzeit. Das Qing-Kaiserhaus stand dem Konfuzianismus nahe, doch die Bevölkerung beteiligte sich an unterschiedlichen religiösen Praktiken. Diese mussten sich nicht ausschliessen, sondern konnten sich auch ergänzen. Dabei reichte das Angebot von buddhistischen Beerdigungsritualen über Kampfsporttechniken bis hin zu Ahnenkulten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts öffnete sich China nach langer Isolation. Das Kaiserreich hatte die beiden Opiumkriege gegen Grossbritannien und andere europäische Mächte verloren. Die Sieger verlangten nun von China neben der wirtschaftlichen Öffnung auch mehr kulturellen Austausch. Katholische und protestantische Missionar*innen erhielten die Erlaubnis zu predigen. Es verbreitete sich westliches Gedankengut. China begann sich von alten Traditionen abzuwenden, um mit dem «modernen» Westen mitzuhalten.
Tabula Rasa
«Moderne bedeutet, tabula rasa zu machen: Die Tradition muss Platz machen für Neues», so beschreibt es Professor François Gauthier. Er unterrichtet Religionswissenschaften an der Universität Freiburg und forscht unter anderem zu chinesischer Religion. Wie er beschreibt, beginnen Ende des 19. Jahrhunderts erste Reformprojekte, um China zu modernisieren. So werden zum Beispiel Tempel in Schulen umfunktioniert.
Traditionelle chinesische Religion wie der Konfuzianismus galt als veraltet. Tempel waren einst Orte lokaler Politik und Tradition, erst der Kontakt zum Westen verwandelte sie in religiöse Institutionen. Das europäische Konzept der Religion mit Dogmen und formalisierten Riten fand seinen Weg nach China. Und mit der Religion (zhonjiao) wurde der Aberglaube (mixie) geboren.
Kampfkunst und Traditionelle Chinesische Medizin
Nach der Überwerfung des Kaiserhauses entstand 1912 die Republik China. Sie trieb die Modernisierung weiter voran. Für die Religionen bedeutete dies, dass sie nationale Vereinigungen bilden mussten, um als fortschrittlich zu gelten. Das Vorbild für solche Vereinigungen waren christliche Kirchen. Je weiter eine religiöse Praktik in China vom christlichen Modell entfernt war, desto heftiger begegneten ihr die Reformbewegungen. Alles was sich nicht einer Religion zuordnen liess, galt als Aberglauben. Professor Gauthier weist darauf hin: «Aberglauben ist nicht nur eine erfundene Kategorie, sondern eine zutiefst christliche.»
Zwar gab es bereits unter dem Kaiser Riten und Praktiken, die als akzeptabel oder inakzeptabel galten. Doch eine klare Trennung zwischen Religion und Aberglauben entstand erst unter westlichem Einfluss. Abergläubische Praktiken wurden verboten. Um dem Verdacht des Aberglaubens zu entkommen, vollzogen viele Praktiken einen Wandel. Die Kampfkunst distanzierte sich von ihrer «religiösen» Komponente und legte einen Fokus auf den Sport. Die Traditionelle Chinesische Medizin unterzog sich einer «Verwissenschaftlichung», damit sie ergänzend zur westlichen Medizin weiterbestehen konnte.
Mao und die Kulturrevolution
Als die Kommunistische Partei 1949 die Macht übernahm, übernahm sie auch das Begriffspaar der Religion und des Aberglaubens. Karl Marx bezeichnete Religion als das Opium des Volkes, weil sie das Leid der Arbeiter*innen betäubt und den Status Quo aufrechterhält. In einer sozialistischen Gesellschaft hat Religion demnach nicht nur keinen Platz, sondern auch keine Funktion. Denn wenn die materiellen Bedürfnisse aller gestillt sind – so die Theorie – braucht es keinen religiösen Trost mehr. Trotzdem durften die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften unter kommunistischer Herrschaft erstmal in streng regulierter Form weiter existieren. Sie durften den Kommunismus jedoch nicht hinterfragen. Das, was die Partei aber als «feudaler Aberglauben» bezeichnete, wurde verboten. So instrumentalisierte die Kommunistische Partei den Begriff des Aberglaubens, um die religiöse Freiheit einzuschränken.
Mao Tse-tung lancierte 1966 eine politische Kampagne, um mit alten Traditionen zu brechen und einen modernen, sozialistischen Staat aufzubauen. Während dieser «Kulturrevolution» verschwanden viele Spuren von Religion aus dem öffentlichen Leben. Hatten um 1900 in China noch über eine Million Tempel gestanden, fanden sich nach 1976 gerade mal ein paar Dutzend. Auch Mönche und Priester, die nicht der Parteilinie folgten, verschwanden. «Abergläubische» Traditionen, wie z.B. das Verbrennen von «Geistergeld» als Opfergabe für die Ahnen, liessen sich schlechter regulieren als Religion und wurden ganz unterdrückt.
Gegenwart
Nach Maos Tod und der Marktreform von 1978 erlebte China einen religiösen Boom. Dabei blühten viele spirituelle Praktiken wieder auf, die in den Jahrzehnten zuvor als Aberglaube definiert worden waren. Auch offizielle Gebäude besitzen nach 1978 Gebetsschreine oder sie werden nach der Lehre des Fengshui eingerichtet. Die Körperübungen des Qi-Gongs finden zum Teil in grossen Stadien statt. Zwar blieben die Gesetze gegenüber diesen Praktiken strikt, doch je nach Region wurden sie weniger streng durchgesetzt. Als politischer Begriff ist der Aberglauben in China weniger präsent als früher.
«Im frühen 20. Jahrhundert steckte China Religiosität in eine klare Schublade, doch nach 1978 sprengten die religiösen Praktiken diese Schublade wieder», erklärt Professor Gauthier. Die grossen, religiösen Institutionen bleiben in China unter staatlicher Kontrolle, doch die Mehrheit der gelebten Religion findet ausserhalb dieser «Schublade» statt. Heute gibt es in China statt der wenigen Dutzend nach der Kulturrevolution zwei Millionen Tempel. Die Logik der globalisierten Marktwirtschaft hat auch die Religion erreicht: Es gibt ein vielfältiges Angebot an religiösen Praktiken, aus denen die chinesische Bevölkerung theoretisch auswählen kann. Jedenfalls so lange der Staat dieses Angebot selbst regelt und jede Praxis die «sozialistischen Kernwerte» vertritt.