Japans Wirtschaft ist eine der stärksten der Welt, doch birgt sie verschiedene Schattenseiten: Warum arbeitsbedingter Stress tötet und zur Isolation führen kann.

In Japan ist es gut angesehen, auf der Arbeit einzuschlafen. Dies zeugt davon, dass man sich so sehr für seine*n Arbeitgeber*in einsetzt, dass es einem die Zeit zum Schlafen raubt. Auch in den Bahnen und teils schon im Schulunterricht kommt es deshalb häufig vor, schlafende Menschen zu sehen. Als Inemuri wird dies bezeichnet, «im Schlaf anwesend» zu sein. Warum dieses Verhalten auf schlechten Angewohnheiten beruht, sollte sich uns leicht erschliessen.

Arbeitsalltag in Japan

Eine Arbeitswoche in Japan umfasst 40 Stunden. Meist bleibt es aber nicht dabei. Überstunden sind in Japan üblich und gehören fest zum Arbeitsalltag dazu. Laut rechtlicher Vorgaben müssen Überstunden mit einem Aufschlag von 25 Prozent vergütet werden – aber nicht jede*r Arbeitgeber*in hält sich daran. 23 Prozent der Unternehmen gaben in den letzten Jahren an, dass einige ihrer Mitarbeiter*innen mehr als 80 Überstunden pro Monat anhäufen. Ich konnte es während meines Aufenthalts in Japan beobachten: der Vater meiner Gastschwester ging oft vor 5 Uhr zur Arbeit und kehrte manchmal erst mitten in der Nacht zurück.

Neben der normalen Arbeitszeit und den Überstunden zählen meist weitere Events zur Arbeitszeit. Angesehene Geschäftsleute treffen sich abends auf ein Glas Sake in einem Restaurant, trinken gemeinsam und bauen ihr persönliches Netzwerk weiter aus. Die Teilnahme ist nicht für alle verpflichtend. Wer sich jedoch diesen Veranstaltungen entzieht, trägt damit nicht zum Aufbau guter Beziehungen innerhalb der Firma und zu Partnern bei. Deshalb stehen die Chancen schlechter, in seiner Position aufzusteigen, wenn man sich als Angestellte*r den Trinkpartys (Nomikai) entzieht.

Sich in Japan Urlaub zu nehmen, kommt für die meisten Arbeitenden auch nicht in Frage. Dies würde bedeuten, seine Arbeit an die Kolleg*innen abzugeben und deren Arbeitspensum weiter zu erhöhen. Als ein Volk, welches schon von klein auf lernt, sich in die Gesellschaft einzufügen und eigene Bedürfnisse möglichst in den Hintergrund zu schieben, möchten sie andere nicht zusätzlich belasten. Lieber geniessen die Japaner*innen die zahlreichen nationalen Feiertage, an denen alle frei haben.

Seit sich die japanische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch verbessert hat, musste die fleissige japanische Bevölkerung diesen Stand bestmöglich beibehalten. Auf die Arbeitenden wird sehr viel Druck ausgeübt. Diese Überlastung kann bis zum Tod führen.

«Karōshi» und «Karōjisatsu»

Als Karōshi (過労死) wird der plötzliche Tod durch arbeitsbedingten, mentalen Stress bis hin zu Hirnblutungen und Schlaganfällen bezeichnet. Der Begriff setzt sich aus drei Kanji zusammen: 過 (ka) bedeutet «zu viel» oder «Grenzen überschreitend», 労 (rou) steht für «arbeiten» und 死 (shi) ist das Zeichen für den Tod. Im englischsprachigen Raum übersetzte man diesen Begriff lange Zeit mit «death from overwork». Mittlerweile spricht man auch in Europa und Amerika von Karōshi, wenn über das japanische Phänomen berichtet wird.

Auch Suizide, die aufgrund schwerwiegender psychischer Störungen begangen werden und wohl eine Reaktion auf enormen Arbeitsdruck darstellen, können darunter gezählt werden. Diese werden als Karōjisatsu (過労自殺) bezeichnet.

 

Der erste offizielle Fall von Karōshi wird mit dem Jahr 1969 datiert. Ein 29-Jähriger starb infolge eines Schlaganfalls. Er war in der Versandabteilung der grössten japanischen Zeitung angestellt. In den 80er-Jahren richtete sich mehr Aufmerksamkeit auf die plötzlichen Tode einiger angesehener Manager. Infolgedessen begann das Arbeitsministerium Statistiken zu Karōshi zu führen.

Die Geschichten der Verstorbenen sind tragisch. Einige, die Suizid begehen, arbeiten nicht einmal ein ganzes Jahr in ihrer Firma oder Abteilung. Selbst nachdem sie nach der Arbeit nach Hause zurückkehren, arbeiten sie bis tief in die Nacht weiter. Teils müssen die Angestellten in der Firma übernachten. Wochenenden werden zu Arbeitstagen, teils hatten die Betroffenen in den 15 bis 50 Tagen vor ihrem Tod keinen einzigen Tag frei.

Jedoch werden nicht alle Fälle von Karōshi offiziell als solche anerkannt. Die häufigen Todesfälle können nicht immer direkt mit Arbeitsstress in Verbindung gebracht werden. Somit liegt die Dunkelziffer mit Sicherheit viel höher als offiziell bestätigt.

Um sich vor der Überarbeitung zu schützen, greifen immer mehr junge Japaner*innen zu Teilzeitjobs, die nach Stunden gezahlt werden. Sie entgehen somit dem Teufelskreis, bei einer Festanstellung unzählige Überstunden anhäufen zu müssen und sich psychisch noch mehr auszubrennen. Denn die psychischen Probleme entwickeln sich oft schon in der Schule, im Kindergarten oder gar noch früher.

 

Junge, verzweifelte Stimmen

Der japanische Schulalltag weist erstaunliche Ähnlichkeiten zum Arbeitsalltag auf. Der Tag in einer japanischen Mittelschule oder einer Hochschule geht über die eigentliche Unterrichtszeit hinaus. Nachmittags und teils bis mitten in die Nacht finden verschiedene Clubaktivitäten statt, in denen sich die Schüler*innen engagieren. Ich selbst kenne ehemalige Schüler*innen, die erst lange nach Sonnenuntergang nach Hause kamen und bis mitten in die Nacht lernten, nur um dann zu wenig zu schlafen und frühmorgens erneut in die Stadt ihrer Schule zu pendeln.

Die Noten werden in Japan nicht nach einem kodierten System zensiert, sondern es ist die Prozentzahl der korrekten Antworten, die zählt. Der Druck, so nah wie möglich an der 100 zu sein, ist allgegenwärtig. Viele Schüler*innen besuchen abends meist noch Nachhilfeschulen – kein Wunder, denn das Unterrichtsniveau liegt deutlich höher als in der Schweiz.

Zudem bilden Aufnahme- sowie Abschlussprüfungen in der Mittel- und Oberschule einen wichtigen Teil der Schulkarriere. Wer in eine gute Universität, beispielweise in Tōkyō oder Kyōto, kommen möchte, muss äusserst schwere Aufnahmeprüfungen antreten. Viele Schüler*innen beginnen schon Jahre vor der Prüfung mit dem Lernen.

4 Prozent aller Suizide in Japan gehen primär auf schulische Probleme zurück, die Zahl könnte aber in Kombination mit seelischen und körperlichen Beschwerden weitaus höher sein. 3,5% aller Suizide im Jahr 2015 wurden von Schüler*innen und Studierenden begangen. Damit zählt der schulische Druck als häufigste Todesursache in dieser Altersklasse – überwiegend für Frauen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Insbesondere 2020 und 2021 waren die Jahre mit den höchsten Selbstmordraten unter Minderjährigen. Im ersten Covid-Jahr starben 415 Kinder zwischen 6 und 18 Jahren. Zudem stieg die Zahl der Fehltage von Schüler*innen um 8 Prozent an.

Jahrelange Isolation

Ein weiteres Phänomen geht mit dem japanischen Lebenslauf einher. Besonders Männer, die unter dem Leistungsdruck leiden, schliessen sich für Monate oder Jahre in ihre Zimmer ein, abgeschottet von der Aussenwelt. Diese sogenannten Hikikomori beginnen meist als Schulverweigerer und bleiben für lange Zeit bei ihren Eltern, die sich um die Betroffenen kümmern. Meist verbringen sie ihre Zeit vor dem Computer oder Fernseher und versinken in Videospielen oder Anime. Gründe für die Millionen von Hikikomori sind der enorme Druck in der Schule, die unsichere Situation auf dem Arbeitsmarkt, ein gescheiterter Übertritt in das Erwachsenenleben und Verwöhnung durch die Eltern. Die Mittelschicht hat meist das Geld, auch ein erwachsenes Kind zu versorgen. Betroffene müssen daher nicht zwingend arbeiten und ihr Einkommen selbst verdienen.

In Japan lässt sich also wie in einigen anderen asiatischen Ländern auch ein enormer Leistungsdruck beobachten. Dies wird über Generationen weitergelehrt. Von Geburt an arbeiten Japaner*innen darauf hin, eines Tages in eine gute Universität zu kommen, um später eine gesellschaftlich gut angesehene Arbeit zu finden. Das Ziel ist, immer erfolgreicher zu werden, der Gesellschaft etwas Gutes zurückzugeben und zum wirtschaftlichen Wachstum beizutragen. Leider geht diese Lebensweise mit schwerwiegenden mentalen Herausforderungen einher. Im schlimmsten Fall fehlt es an Freizeit, Schlaf und Lebensqualität, bis der Tod oder ein enormes Burnout einsetzt. Andernfalls ziehen sich Millionen von Japaner*innen in ihre Zimmer zurück und isolieren sich komplett von der Gesellschaft. Die Bevölkerung leidet stark unter diesem wirtschaftlichen und akademischen System und es bleibt abzuwarten, ob sich in den nächsten Jahren etwas ändern wird.

Die japanische Regierung arbeitet an einer Verbesserung, jedoch nehmen nicht alle Unternehmen die neuen Ideen und Richtlinien an. Ich denke, es wird noch einige Jahre dauern, bis die Brutalität des akademischen Lebens in Japan nachlässt und die Menschen ihr Leben mehr geniessen können. Besonders wünsche ich es mir für meine Freund*innen in Japan, die jetzt langsam in das Arbeitsleben übertreten.

 

Text und Illustration: Helene-Shirley Ermel

 

Bei Prokrastination, universitärem Druck und anderen, die Lebensqualität beeinträchtigenden psychischen Beschwerden könnt ihr euch an die Psychologische Beratungsstelle der Universität Freiburg wenden:

conseilpsychologique@unifr.ch

oder

+41 26 300 70 41