Ein Interview über die realen Folgen unserer subjektiven Wahrnehmung der Welt, und wie in der Schule Toleranz gefördert werden könnte.

 

56 Minuten und 45 Sekunden kurz ist die Audioaufnahme meines Gesprächs mit dem Professor Dr. Andreas Hadjar. Der bebrillte Mann mir am Tisch gegenüber ist Professor für Soziologie, Sozialpolitik und Sozialforschung an der Universität Freiburg (CH). Er publiziert unter anderem über Ungleichheiten im Bildungserwerb, Arbeitsmarkt- und anderen Lebenschancen. Im Mail der Interviewanfrage schreibe ich von «sich über subjektive Wirklichkeit austauschen». Im Büro des Professors wird schnell klar, dass ein «Austausch» die völlig falsche Bezeichnung für ein Gespräch über die Folgen unserer subjektiven Wahrnehmung ist. Denn die subjektive Wahrnehmung ist ein wissenschaftliches, empirisches Konstrukt, das in der Soziologie bei Themen wie Toleranz, Vorurteilen und Diskriminierung eine zentrale Rolle spielt. Darüberhinaus beeinflusst sie auch alle sozialen Wahrnehmungen und das soziale Handeln. Mit seinen Erläuterungen vermittelt Andreas Hadjar, dass eine wissenschaftliche Herangehensweise bei dem Buzzword «subjektive Wirklichkeit» von grosser Bedeutung ist. Welche Folgen kann das Aufeinandertreffen verschiedener subjektiver Wahrnehmungen in der Schule für die Gesellschaft haben?

 

Unser Verhalten in der Realität ist von unserer Wahrnehmung dieser beeinflusst. Das ist die nackte, grundlegende Relevanz der subjektiven Wirklichkeit. Wie wir die Welt wahrnehmen, hat reale Konsequenzen: Befinden sich zwei Personen in einer Situation, und eine fühlt sich von der anderen bedroht, obwohl sie eigentlich nicht in Gefahr ist, kann es dennoch sein, dass sie beginnt, sich zu verteidigen und dabei der anderen Person Schaden zufügt. Ihre individuelle Wahrnehmung der Situation, die sich gänzlich von der Wahrnehmung der anderen Person unterscheidet, hat zu einem Schaden geführt, der vermeidbar gewesen wäre, hätten sich die beiden Personen über ihre unterschiedlichen Interpretationen ausgetauscht. Das, was wir subjektiv wahrnehmen, ist wichtig, weil wir unsere Handlungen darauf aufbauen.

 

Rolle der Familie in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit

Unsere Sozialisation, all unsere täglichen Erfahrungen, die wir bisher im Leben gemacht haben; im Elternhaus, mit Freund*innen, im Studium, am Arbeitsplatz, prägen unsere subjektive Wahrnehmung von Ereignissen und unsere subjektiven Einstellungen. Auch unsere Werthaltungen: Alles geschieht vor dem Hintergrund, wie wir unsere Welt subjektiv wahrnehmen. Die Familie ist die erste und nächste Kontaktstelle für Erfahrungen in der Welt – auch wennsie mit dem Jugendalter ihre zentrale Rolle einbüsst. Damit bildet sie die erste Sozialisationsinstanz. Zu Beginn des menschlichen Lebens wird die subjektive Wahrnehmung der Welt zu einem grossen Teil von der eigenen Familie beeinflusst. Das verändert sich mit dem Älterwerden. Durch den Konsum von Massenmedien und die Entwicklung eines Freundeskreises, mit dem man sich regelmässig austauscht, entfernt man sich immer mehr von der Familie. Gerade für Studierende sei das eine gängige Erfahrung. Sie würden sich, insbesondere wenn die Eltern selbst nicht studiert haben, teilweise noch mehr von ihnen entfernen, sagt Herr Hadjar. Und zwar, weil sie zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben in anderen (Um-)Welten leben.

Jedoch weiss man auch, dass im Einklang zu sein mit den Einstellungen und Werthaltungen und dem, was andere denken, das subjektive Wohlbefinden fördert. Dadurch wird die kognitive Dissonanz verringert, die ansonsten auftaucht. Um diese Dissonanz zu vermeiden, suchen wir uns Umwelten, in denen die Leute so denken wie wir. Das lässt uns sich wohler fühlen. Andererseits prägt uns auch unser Freundeskreis. Es ist wahrscheinlich, dass wenn meine Freund*innen sehr stark für Frauenrechte eintreten, auch ich mich noch mehr für Frauenrechte engagieren werde.

 

Zwei unterschiedliche subjektive Wirklichkeiten treffen aufeinander.

 

Mit der Grundlage der Sozialisation auf Basis sozialer Erfahrungen, durch die unsere subjektiven Wirklichkeiten entstehen, wenden Andreas Hadjar und ich uns im Gespräch  dem Thema Bildung zu. Der Professor befasst sich unter anderem mit der Verringerung von Ungleichheiten in der Bildung. In Gesamtschulen und anderen integrativen Schulformen, in denen die strenge Trennung nach Leistungsgruppen und damit nach sozialen und ethnischen Herkünften aufgelöst ist, können Kinder aus unterschiedlichen Milieus und Gesellschaftsschichten in einer Klasse zusammenkommen. Ihre Wirklichkeiten unterscheiden sich insofern voneinander, dass sie mit unterschiedlichen Schwerpunkten im Leben und Präferenzen sozialisiert wurden. Es stellt sich die Frage, welche Aufgabe der Schule und den Lehrpersonen bezüglich des Umgangs mit den verschiedenen Wirklichkeiten zukommt. Sollten sie zwischen den subjektiven Wahrnehmungen vermitteln? Damit die Kinder verstehen, weshalb anderen anderes wichtig ist?

 

Aufgabe der Schule im Umgang mit Diversität

Die Schule habe sicher eine Aufgabe im Zusammenhang mit der Diversität, meint Herr Hadjar. Das betreffe nicht nur, wer wie sozialisiert worden ist und deshalb welche Präferenzen hat, sondern auch Geschlechterdiversität oder Diversität hinsichtlich sozialer und ethnischer Herkunft. Die Schule habe das Potenzial, den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern. Dadurch, dass sie die Toleranz fördert und lehrt, mit Diversität positiv umzugehen. Das kann heissen, dass sie zeigt, wie Menschen aus verschiedenen Ländern kochen. Um dies darzulegen: Die einen machen das so, die andern so. Auf diese Weise kann Wertschätzung und Wohlbefinden gefördert werden. Forschungsergebnisse, auf die sich Andreas Hadjar bezieht, deuten an, dass das Schulsystem der Gesamtschule diesbezüglich viel Potenzial hat. Befinden sich unterschiedliche Leistungsgruppen in einem Klassenraum, kann dort Binnendifferenzierung mit individueller Förderung eingebracht werden. Mit diesem Konzept wird versucht, Gruppen mit bestimmten Nachteilen extra Inputs zu geben. In Finnland beispielsweise werde oftmals Teamteaching betrieben. Dabei sind zwei Personen im Klassenzimmer. Während eine Lehrperson vorne den Unterricht gestaltet, sitzt die andere Lehrperson mit einem Kind hinten zusammen am Tisch. Dieses Kind kommt in der Schule nicht gut voran, oder würde vielleicht den Unterricht stören. Die zweite Lehrperson löst mit ihm zusätzliche Aufgaben oder erklärt, was die Lehrperson vorne gerade angestrichen hat. So versucht man durch Binnendifferenzierung im Unterricht trotzdem weiterzukommen, ohne dass die unterschiedlichen Leistungsniveaus einander vom Fortschritt abhalten. Und zudem ist es möglich, trotzdem allen das Gefühl zu geben: «Ihr seid Teil des grossen Ganzen».

So könnten Nachteile kompensiert werden. Im gesamtschulartigen System funktioniere das, und dazu finde auch keine Abkapselung gewisser Bevölkerungsgruppen statt. Werden einzelne Gruppen in der Schule miteinander in Beziehung gesetzt, und gestaltet man diesen Kontakt positiv, kann das dazu führen, dass es in der Gesellschaft zu mehr Zusammenhalt und Toleranz gegenübereinander kommt. Bei all dem ist die Rolle der Lehrpersonen und ihrem Engagement im Herstellen des positiven Kontakts zentral. Jedoch werde diese Verantwortung nicht von allen Lehrpersonen so wahrgenommen. Dies meist mit dem Hinweis, dass dies nicht der Auftrag der Schule sei, die vor allem fachliche Kompetenzen vermitteln soll. So offensichtlich wichtig die Vermittlung zwischen verschiedenen subjektiven Wirklichkeiten in der Schaffung von Toleranz und damit dem Abbau von Vorurteilen scheinen mag, ist sie dennoch gerade für diejenigen, die ein stärkeres Engagement der Schule und der Lehrpersonen für einen positiven Umgang mit Diversität ablehnen, Teil einer Weltanschauung. Und die Schule wollte man immer aus der ideologischen Diskussion raushalten.

 

Text: Selina Keiser

Bild: Pixaby


Prof. Dr. Andreas Hadjar

Andreas Hadjar ist Professor am Institut für Sozialarbeit, Sozialpolitik und Globale Entwicklung der Universität Freiburg (CH). Er publiziert über Themen entlang der Ungleichheitsachsen soziale Herkunft, Geschlecht und Migrationshintergrund, subjektives Wohlbefinden, Werthaltungen, Einstellungen und politische Partizipation. Ein besonderes Interesse gilt dabei der Frage, wie Bildungssysteme, Wohlfahrtsstaatsregimes und andere gesellschaftliche Charakteristiken Ungleichheiten prägen.