Es fehlen Lehrpersonen. Die Lage scheint dramatisch. Zumindest wenn man dem Diskurs in den Medien folgt. Zusammen mit Christine Pauli [1] schauen wir genauer hin und erörtern Ursachen sowie mögliche Lösungsansätze.

 

«Wegen Eltern wie Ihnen haben wir einen Mangel an Lehrpersonen!», unterbrach ich den Vater am Telefon und hängte abrupt auf. Professionalität sieht anders aus, und doch mag es der ein oder anderen Lehrperson schon so ergangen sein – zumindest im Kopfkino.

 

Wie dramatisch ist die Lage?

In der Schweiz arbeiten gemäss aktuellem Bildungsbericht [2] 97’339 Lehrpersonen an öffentlichen Schulen der obligatorischen Volksschulstufe. Derselbe Bericht hält ausserdem fest, dass die Anzahl der SchülerInnen seit 2011 kontinuierlich gestiegen ist. Dieser Trend wird voraussichtlich anhalten. Auf der Sekundarstufe wird in der nächsten Dekade sogar ein Zuwachs von 14% prognostiziert. Der Bericht lässt offen, ob diese Zunahme durch grössere Klassen oder durch zusätzliches Lehrpersonal kompensiert werden soll. Fest steht hingegen, dass bei gleichbleibender Klassengrösse die Zahl der Lehrpersonen bis 2031 um etwa 6% steigen muss. Konkret bedeutet dies, dass bis 2031 auf der Primarstufe 3’800 zusätzliche Lehrkräfte und auf der Sekundarstufe I 2’300 benötigt werden. Berücksichtigt man die normale Fluktuation sowie Pensionierungen und vergleicht diese mit den Lehrdiplomen, welche die pädagogischen Hochschulen und universitären Institutionen der Lehrpersonenbildung ausstellen, könnten bis 2031 allein auf der Primarstufe rund 10’000 Lehrpersonen fehlen.

Also ja, die Lage ist beunruhigend.

 

Für Nachschub ist gesorgt, oder?

Jährlich immatrikulieren sich rund 4’000 Studierende an einer pädagogischen Hochschule. Dies entspricht etwa 10% aller MaturandInnen und einer Zunahme von über 30% in den letzten zehn Jahren. Da alle PH-Studierenden sehr fleissig sind, schliessen rund neun von zehn ihr Studium auch tatsächlich ab und die meisten von ihnen stehen schon bald vor einer Klasse. Doch auffallend ist, dass jeder fünfte Berufseinsteiger in den ersten fünf Jahren nicht nur der Wandtafel, sondern dem ganzen Schulzimmer den Rücken kehrt. Obschon die Hälfte der Ausstiege nur temporär ist, verschärft dies den Lehrkräftemangel zusätzlich.

 

«Die Eltern sind schuld»

Ein Gedanke, der vielen Lehrpersonen immer wieder in den Sinn kommt, doch so einfach ist es dann doch nicht. Die Thematik ist vielschichtig und weist auf Defizite in verschiedenen Bereichen unseres Bildungssystems hin. Die Hauptursache verortet Christine Pauli jedoch bei den demographischen Veränderungen, sprich die steigende Zahl der SchülerInnen gepaart mit der Pensionierungswelle der Baby-Boomer-Generation. Es sei also in erster Linie ein Problem von Angebot und Nachfrage. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Daten des Bildungsberichts [3] sowie den Untersuchungen von Anita Sandmeier, die sich im Auftrag der PH Schwyz der Thematik des Lehrpersonenmangels widmete.

Ein weiterer Grund für fehlende Lehrkräfte ist zudem die weit verbreitete Teilzeitarbeit. Als Ursachen dafür vermutet der Bildungsbericht in erster Linie die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Denn im Gegensatz zu anderen Branchen zieht eine Teilzeitanstellung im Lehrberuf weder Lohnnachteile noch die Einschränkung von Karrieremöglichkeiten nach sich. Dies hat zur Folge, dass bei einem mittleren Beschäftigungsgrad von aktuell rund 65% ein Drittel der verfügbaren Ressourcen nicht ausgeschöpft wird. In den meisten Kantonen arbeitet jede vierte Lehrperson weniger als 50%.

Interessant hierbei sei, erklärt Christine Pauli, dass Teilzeitpensen beispielsweise im Kanton Bern in den 70er-Jahren geschaffen wurden, als ein Überschuss an Lehrkräften herrschte. Damals arbeiteten etliche Lehrpersonen mehr als 100%. Um jungen Lehrpersonen die Möglichkeit zu geben, eine feste Stelle antreten zu können, wurde eine Pensenobergrenze eingeführt. Die so entstandenen Teilzeitpensen wurden an Berufseinsteiger vergeben. Christine Pauli weist in diesem Zusammenhang darauf hin, wie ein Blick in die Vergangenheit die Problematik relativieren könne. Denn es zeigt sich, dass Schwankungen eine historische Tatsache sind. Phasen, in denen ein Lehrpersonenmangel herrschte, werden gefolgt von Dekaden eines Überschusses.

 

Lehrpersonen an die Arbeit!

Wer vorgibt, für komplexe Probleme einfache Lösungen liefern zu können, ist entweder Lehrperson oder PopulistIn. Dementsprechend eins vorweg: Eltern am Telefon anzubrüllen, löst das Problem vermutlich nicht. Zudem könnte man angesichts der Faktenlage eigentlich entspannt aufatmen, oder? Die einfachste Lösung wäre nämlich, dass alle Lehrpersonen einfach 100% arbeiten würden. Diese Forderung steht jedoch im Widerspruch zu etlichen Untersuchungen. So ergab eine Umfrage des Schweizer Lehrer- & Lehrerinnenverbands im Jahr 2014, dass jede fünfte Lehrkraft konstant überlastet ist. In einer weiteren Befragung von rund 14’000 Lehrpersonen in allen Karrierephasen nannte jede dritte gesundheitliche Aspekte als Grund für die Teilzeitarbeit. 2019 gaben gemäss dem Bundesamt für Statistik 15.5% an, aufgrund gesundheitlicher Probleme sowie zur Vermeidung einer zu hohen Arbeitsbelastung Teilzeit zu arbeiten. Schliesslich ergab eine Studie der französischsprachigen Gewerkschaft der Lehrkräfte (SER), dass rund 40% der Lehrpersonen durch ein Burnout gefährdet sind.

Dabei sind diese Erkenntnisse nichts Neues, denn bereits 2008 hielt eine Untersuchung der Fachhochschule Nordwestschweiz fest, dass die Burnout-Tendenz im Lehrberuf höher sei als in anderen Berufen.

 

 

 

 

Was schlagen sie vor, Frau Pauli?

Um der Mangellage zu begegnen, erlauben etliche Kantone mittlerweile die Lehrtätigkeit ohne Diplom. Diesen Ansatz sieht Christine Pauli kritisch. Es sei unverantwortlich, Personen ohne fundierte didaktische und pädagogische Ausbildung vor eine Klasse zu stellen. Als Überbrückungsmassnahme möge dies zwar kurzfristig Abhilfe schaffen, doch langfristig werde die Attraktivität des Berufs zusätzlich geschmälert, was den Mangel verschärft. Denn wieso sollte jemand sechs bzw. neun Semester in ein Studium investieren, um sich die didaktisch-pädagogischen Grundlagen anzueignen, wenn der Job von Laien erledigt werde kann? Zudem betont Christine Pauli, sei dadurch die Qualität der Bildung an Schweizer Schulen gefährdet.

Dahingegen befürwortet die Professorin die Einführung von Mindestpensen wie sie beispielsweise der Kanton Genf kennt. Dort dürfen Lehrkräfte nicht weniger als 50% arbeiten. Eine solche Massnahme könnte sich jedoch schnell ins Gegenteil verkehren, denn die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie trägt massgeblich zur Attraktivität des LehrerInnenberufs bei.

Andererseits führt die Zerstückelung der Pensen dazu, dass eine Vielzahl von Lehrkräften an einem Schulhaus tätig ist. Dies erschwert die Gestaltung einer Schulhauskultur massgeblich, da ein Gemeinschaftsgefühl nur dort entstehen, wo Menschen sich kennen, sich nahestehen.

Und was ist mit den Burnouts? – Um die Lehrpersonen zu entlasten, wartet Christine Pauli mit einem ganzen Katalog von Massnahmen auf. So sei es längst an der Zeit, das Klassenlehrermodell zu überdenken. Eine einzige Lehrperson, die für die gesamte Klasse verantwortlich ist, stehe unter massivem Druck. Abhilfe könnte ein Konzept schaffen, bei dem die Verantwortung auf mehrere Lehrpersonen verteilt wird. Solche Ansätze werden an progressiven Schulen, dazu gehören beispielsweise MOSAIK-Schulen, bereits umgesetzt.

Des Weiteren müsse die Zusammenarbeit im Kollegium gestärkt werden. Dies betreffe die fachliche, aber vor allem auch die pädagogische Arbeit. Eine neue Gesprächskultur müsse im Kollegium etabliert werden. Eine Kultur, in der sich alle beteiligen und ungezwungen über Bildung und Unterricht austauschen, um sich gegenseitig zu helfen.

Schliesslich plädiert Christine Pauli dafür, dass BerufseinsteigerInnen mit begleitenden Massnahmen wie Beratungsangeboten oder Kolloquien unterstützt werden. Der Fokus soll dabei auf der Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen liegen, da beide als grundlegende personale Ressourcen gelten.

Kurzum: Das Modell der Lehrperson als Einzelkämpfer hat ausgedient.

 

Neuer Wein in alte Schläuche

Diese skizzierten Ansätze mögen einleuchten und könnten die Krise entschärfen. Doch würden wir damit lediglich einzelne Symptome eines krankenden Systems, anstatt die zugrundeliegenden Ursachen bekämpfen. Denn die Defizite unseres Bildungssystems zeigen sich mir als Sekundarlehrer deutlich: So berichten etliche Lehrpersonen über zunehmende Gewalt und Vandalismus an Schulen. Kinder und Eltern klagen über steigenden Druck. Das inklusive Schulmodell, bei dem SchülerInnen mit Behinderungen in die Regelklassen integriert werden, verursacht mancherorts massive Probleme, sodass beispielsweise der Kanton Basel-Stadt erwägt, zum traditionellen Modell zurückzukehren. Der Bereich Bildung für Nachhaltige Entwicklung müsste meines Erachtens unbedingt in einem eigens dafür vorgesehenen Fach gelehrt werden, um tatsächlich seine Wirkung entfalten zu können. Und schliesslich zeigt sich anhand der oben geschilderten Untersuchungen zur Arbeitsbelastung, dass die Arbeitsbedingungen im Schulzimmer so mancher Lehrperson zusetzen.

Dabei sind alle diese Schwierigkeiten keineswegs verwunderlich. Liegt es doch auf der Hand, dass unser Bildungssystem die falschen Strukturen aufweist, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit echten Antworten zu begegnen. Das System stammt aus dem 19. Jahrhundert; aus einer Zeit, in der die Schule in erster Linie Bürger (!) heranzog, die wie ein Zahnrad in die aufkommende Industrialisierung eingepasst wurden. Die Gesellschaft steht heute sozial, wirtschaftlich und ökologisch an einem völlig anderen Punkt. Dies hat für die Auswahl der Inhalte sowie für die Gestaltung des Unterrichts tiefgreifende Implikationen zur Folge.

Selbstverständlich wurden im Zuge der reformpädagogischen Bewegungen gewisse Aspekte verändert, andere leicht angepasst. Aber in ihren Grundzügen weisen die meisten Schulen immer noch dieselben Strukturen auf: Eine grosse Gruppe junger Menschen sitzt in einem Raum und lernt im Rhythmus des Stundenplans, was die Lehrperson serviert. Der Fokus liegt dabei auf Kompetenzen, welche die Wirtschaft diktiert. Störungen während des Unterrichts werden sanktioniert – müssen sanktioniert werden, weil sonst die Klasse darunter leidet.

Eine solche Vorstellung von Bildung ist überholt. Deshalb wird es Zeit, an den Grundpfeilern der Institution Schule zu rütteln, sie gar niederzureissen, um Platz zu schaffen für eine neue Schule. Eine Schule, die den individuellen Bedürfnissen der SchülerInnen gerecht wird. Eine Schule, in die Eltern vertrauen. Eine Schule, in der Lehrkräfte ihrer Leidenschaft nachgehen können: junge Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben und die Partizipation in der Gesellschaft vorzubereiten.

 

Und zum Schluss eine Bemerkung in eigenem Interesse: Nein, liebe Eltern, Sie sind nicht schuld am Lehrpersonenmangel. Doch bitte überlegen Sie es sich zwei Mal, ob Sie zum Hörer greifen, nur weil ihr Sprössling ihnen genervt berichtet, der Lehrer habe ihm bei der Prüfung – die sie nicht angeschaut haben – den einen Punkt nicht gewährt. Danke.

 

 

Text: Gabriel Mateos Sánchez

Illustration: Gina Calcagni (inspiriert durch Hendrik Schmidt/DPA)


[1] Christine Pauli: Professorin am Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Universität Freiburg

[2] Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung

[3] Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung