Es ist 16:57 Uhr und ich warte am Bahnsteig von Fribourg auf den IR15 in Richtung Lausanne.
Pendeln ist ja schon was Schönes. Da hat man Zeit für die Seminarlektüre oder ein paar Französischvokabeln. Manchmal gönne ich mir sogar ein Nickerchen, der Zug schwankt so beruhigend. Heute ist er mal wieder zu spät, was neuerdings häufiger vorkommt – 0,2% mehr als noch im vorigen Jahr habe ich kürzlich gelesen, vor allem wegen der vielen Baustellen. Immer noch besser als in Deutschland. Hauptsache, ich erreiche meinen Anschlusszug in Lausanne.
Der Interregio fährt ein. Ich laufe an drei Wagen vorbei, steige ein und setze mich ans Fenster eines Viererabteils der 2. Klasse.
Wieder ein verkürzt geführter – und natürlich ist die 2. Klasse wieder heillos überfüllt, während die 1. Klasse halb leer bleibt. Solange man am Ende dennoch einen Sitzplatz bekommt, ist es ja einigermassen auszuhalten. Müssen die Leute aber auch immer ihren Rucksack auf den einzigen freien Platz legen? Schon ein bisschen asozial, die sehen ja genauso, dass sonst alles voll ist. Dann auch noch so demonstrativ wegschauen und den Blickkontakt vermeiden, dass man sie direkt ansprechen muss: Könnten Sie nicht bitte so gnädig sein, den Sitz zu räumen?
Die Person mir schräg gegenüber zieht ihre Schuhe aus und positioniert ihren rechten Fuss auf meinem Sitzpolster.
Geht’s noch?! Die hat scheinbar noch nie was von Intimdistanz gehört. Und einfach so in der Öffentlichkeit die Schuhe ausziehen. Die glauben wohl, die sind bei sich zu Hause?! Da müsste ich eigentlich was sagen. Aber ständig diese Konflikte. Wie ich das hasse. Vor allem ich, mit meinem gebrochenen Französisch. Immer so eine Tortur. Erbärmlich, jetzt bin ich schon zwei Jahre in der Westschweiz und stammle nach wie vor so rum. Je – voudrais – un – thé – froid – au – citron. Das kann doch nicht so schwer sein und dann krieg ich stattdessen wieder ein heisses Wasser mit Zitronenschale.
Ich rücke demonstrativ näher zum Fenster in der Hoffnung, dass die junge Frau mein Unbehagen erkennt. Sie füllt die Lücke mit ihrem linken Fuss.
Fehlt nur noch, dass irgendein Typ beginnt, einen Kaugummi mit offenem Mund zu kauen. Hauptsache, die neuen Airpods tief in den Ohren, maximale Lautstärke. Elendigliches Schmatzen untermalt von nerviger Musik. So macht das Pendeln Spass! Erinnert mich an diese schrecklichen ASMR-Streams. Irgendwelches feuchtes Geflüster und Gebläse. Da stehen einem doch die Haare zu Berge! Das gilt dann als «self-care». Ist doch mittlerweile eh alles nur mehr Kommerz. Berge von Heilmittelchen. Irgendwelche Gurus, die ihren Tumblr-Motivationsspruch zu einem Buch aufblasen. Optimieren und perfektionieren soll man sich – Leistung, Leistung, Leistung.
Der Zug erreicht Romont und die anderen Fahrgäste steigen aus.
Alles wird kommerzialisiert! Nicht mal mehr Kunst kann man einfach ausstellen. Nein, muss ja jetzt eine «multisensorische Erfahrung» sein. Picasso Experience. Van Gogh Experience. Alles Multimedia – und stinken nach Tulpe tuts auch. Das hilft der «Immersion». Wirklich der kleinste gemeinsame Nenner. Hauptsache, ein Selfie vor diesem blöden Wirbel der Sternennacht. Soziale Medien?! Zuerst ein bisschen Hatespeech auf Twitter liken – am Klo dann am Doomscrollen. Are you not entertained? Keine Empathie mehr, nur voyeuristisch am Glotzen. Depressiv sind eh schon alle. Italien säuft ab. Australien brennt. Da gibt’s eigentlich nichts mehr zu retten. Wachstum bis zum Verrecken. Kapitalismus halt. Die Schere geht auf und auf. Neoliberalismus – Ziel erreicht. Demokratie bald futsch. Gesellschaft gespalten. Hayek, Friedman und der Buchanan. Alles Verbrecher!
Der Zug passiert die Weinterrassen von Lavaux und kommt planmässig in Lausanne an.
Text Maximilian Mosbacher
Beitragsbild Pixaby