Traditionen sind uns Menschen wichtig. Doch Traditionen gehen öfter, als es uns lieb ist auch Hand in Hand mit Gewalt.
Ende 2024 rückte die kleine und bis dahin unscheinbare Insel Borkum plötzlich ins Rampenlicht. Genauer wurde die Tradition des Klaasohm-Festes zum Mittelpunkt nationaler und internationaler Schlagzeilen. In der Nacht des 5. Dezember verkleiden sich sieben auserlesene Männer in Fell und Hörner. Es kommt zu Kämpfen gegen die anderen verkleideten Männer, Gebrüll auf den Strassen und zu Gewalt. Spezifischer: Gewalt an Frauen. Denn wie es die Tradition will, schlagen die Männer mit Kuhhörnern den Frauen auf Borkum auf das Gesäss. Die Tradition des Frauenschlagens auf Borkum kam in starke Kritik. Recherchen des Norddeutschen Rundfunks (NDR) haben ergeben, dass es beim Anlass zu schweren Verletzungen bei den betroffenen Frauen kommen kann. Die Recherche erläuterte klar, dass es sich beim Klaasohm-Fest nicht mehr um Tradition dreht, sondern viel mehr um die damit verbundene Gewalt. Nicht nur in Deutschland, auch international wurde in den Medien und auf den Sozialen Medien darüber stark diskutiert. Das Fazit dieser Diskussionen: Traditionsbedingte Gewalt an Frauen ist nicht mehr zeitgemäss und sollte unterbunden werden. Doch dabei ist das Borkumer Klaasohm-Fest nur ein Symptom eines viel grösseren Problems.
Traditionsbedingte Gewalt
In der Forschung wird diese Art von Gewalt «traditionsbedingte Gewalt» genannt. Diese umfasst von Genitalmutilation bis zu Steinigung praktisch alles. Wahrscheinlich haben viele dabei die Vorstellung von Gewalt in Entwicklungsländern, doch auch in Europa ist die traditionsbedingte Gewalt ein grosses Problem. Eine Tatsache, welche die Ereignisse auf Borkum bestätigen. Für viele von den 5’000 Bewohner:innen auf Borkum ist das Klaasohm ein sehr wichtiger Bestandteil des Lebens auf der Insel. Da das Fest seit 1830 auf der Insel durchgeführt wird, ist es fast schon verständlich, dass es als wichtiger Teil der Kultur auf Borkum gesehen wird. Die damit verbundene Gewalt wird jedoch totgeschwiegen. Nach den Recherchen des NDR wollten sich die Polizei und die Politik auf Borkum vorerst nicht dazu äussern. Erst als die Tradition der Gewalt durch die Medien mehr Aufmerksamkeit erlangte, wurde zu den Vorwürfen der Recherchen Stellung bezogen. Laut dieser Stellungnahme hätte sich die Tradition über viele Jahre schon verändert und das Frauenschlagen würde jetzt auch abgeschafft werden. Von der Tradition wurde sich sogar distanziert. Der Verein Borkumer Jungens, welcher für die Durchführung des Klaasohm-Fests verantwortlich ist, hat ausgesagt, dass das Schlagen der Frauen zwar Teil der Tradition sei, doch nie der Kern des Festes darstellte. Die Frage bleibt jedoch, wieso das Schlagen von Frauen überhaupt jemals ein Teil der Tradition gewesen war.
Frauen trifft es häufiger
Laut Amnesty International werden Frauen im Namen von Tradition oder Kultur klar mehr diskriminiert als Männer. Die Organisation schliesst dabei Traditionen im Rahmen von häuslicher Gewalt oder Zwangsheirat ein. Geschlechterspezifische Gewalt wird oftmals durch Kultur, Religion oder Traditionen gerechtfertigt. Alte und noch stark verankerte Ideen von patriarchalischer Herrschaft führen dazu, dass in vielen Teilen der Welt Gewalt an Frauen als Sache der Ehre betrachtet wird. Gewalt dieser Art kann von Schlägen, Ausschliessung vom Erbe bis hin zu Ehrenmorden alles umfassen. Diese sogenannten Verbrechen der Frauen können von Flirts mit anderen Männern, Wunsch nach eigenständiger Partnerwahl oder Ausbildungswunsch alles sein. Es sind die Männer, die entscheiden, ob eine Frau der Ehre der Familie geschadet hat. Amnesty International zählt Gewalt im Namen der Ehre daher zur häuslichen Gewalt. Es zeichnet sich ein Bild ab von Frauen, die mit dem Vorwand der Tradition dem Wohlwollen der Männer in ihrem Leben ausgeliefert sind.
Auch hier ist aber wichtig zu bemerken, dass diese Vorgänge zwar mehr verbreitet sind in Entwicklungsländern als in Europa, jedoch auch in Europa jede dritte Frau Gewalt erlebt. Viele davon sind von Gewalt betroffen, welche durch Tradition oder Religion gerechtfertigt wird. Selbst die Schweiz ist nicht frei von solcher Gewalt. So gibt es auch hierzulande Traditionen, die Ähnlichkeiten haben mit der von Borkum. Beispiele dafür sind «Tschäggättä» im Lötschtal oder «Pschuuri» in Splügen, wo sich Männer ebenfalls verkleiden und Frauen durch die Gassen verfolgen. Bei diesen Bräuchen wird nicht auf die Frauen eingeschlagen, sondern ihre Gesichter werden in den Schnee eingerieben oder mit Russ geschwärzt. Dies wirkt vorerst weniger gewaltsam als die Tradition auf Borkum, doch das macht die Tradition nicht unbedingt weniger verängstigend für die Betroffenen in diesen Regionen. In vielen europäischen Länder gibt es daher Anlaufstellen, die spezifisch auf die Hilfe bei traditionsbedingter Gewalt ausgerichtet sind.
Die Schwierigkeiten beim Umgang mit dieser Form von Gewalt und der Hilfe von Betroffenen ist, dass viele über ihre Erfahrungen mit traditionsbedingter Gewalt schweigen. So kann es Jahre dauern, bis sich Betroffene bei Beratungsstellen melden oder mit Vertrauten sprechen. Berichterstattungen, wie die über Klaasohm, könnten dazu beitragen, dass mehr Betroffene sich melden und über ihre Erfahrungen sprechen können.
Kann man Traditionen verändern?
Nachdem der Bericht des NDR über Borkum veröffentlicht wurde, kam es nicht nur im Internet zu Diskussionen. Der Aufruhr über die Tradition war so gross, dass das Frauenschlagen in Zukunft beim Klaasohm-Fest auf Borkum ausdrücklich verboten ist. Doch damit ist die Geschichte noch nicht beendet. Als dieser Beschluss bekanntgegeben wurde, kam es in Borkum zu Protesten gegen diesen Entscheid. 200 Frauen protestierten gegen das Verbot des Frauenschlagens. Mit der Parole «Wir lassen uns das Klaasohm-Fest nicht verbieten!», zogen die Frauen durch die Strassen, um die Tradition zu retten, die es Männern ermöglicht, sie zu schlagen. Dieser Widerspruch ist nicht aussergewöhnlich. Gewalt, auch solche, die man selbst erlebt, wird oftmals verharmlost. Auch geschlechterspezifische Gewalt wird nicht nur von Männern entschuldigt. Selbst Frauen oder andere Bevölkerungsgruppen, die aufgrund einzelner Merkmale Gewalt ausgesetzt sind, verharmlosen diese. Dies dient mehrheitlich dem Eigenschutz. In der Hoffnung, von der Gewalt verschont zu bleiben, sprechen wenige über die negativen Erfahrungen, welche sie mit solcher Gewalt gemacht haben.
Die Frage, ob man ein Brauchtum wie das Klaasohm-Fest abschaffen oder reformieren kann, ist daher komplexer als zuerst gedacht. Traditionen sind wandelbar, doch dieser Wandel kann nicht erzwungen werden. Viele Traditionen stiften Identität für die Menschen, die daran teilhaben. Ausserdem schliessen Traditionen praktisch immer Menschen aus. Die Forderungen von aussen, Traditionen zu verändern bewirken daher in vielen Fällen wenig oder gar nichts. Auch am Beispiel von Borkum kann man dies sehen. Nach langem Hin und Her äusserte sich der Bürgermeister von Borkum doch noch zur Recherche des NDR über die Tradition. Dabei war er kritisch und betonte, dass solche Traditionen für Aussenstehende schwierig seien nachzuvollziehen. Wenn eine Veränderung in der Tradition auf Borkum passieren soll, so muss diese, um erfolgreich zu sein, durch Stimmen von innen in Gang gebracht werden. Die Verantwortung für das Verbieten solcher traditionsbedingter Gewalt liegt also bei den Menschen, die an diesen Traditionen teilnehmen. Anders kann eine Veränderung wohl kaum realistisch durchgesetzt werden. Klar bleibt beim Beispiel von Borkum und dem Klaasohm-Fest und vielen ähnlichen solchen Traditionen weltweit, dass Diskussionsbedarf über Gewalt bei Traditionen besteht.
Traditionen spiegeln die Gesellschaft wider. Dass viele Traditionen nach wie vor mit Gewalt an Frauen verbunden sind, zeichnet ein eher beschämendes Bild der heutigen Gesellschaft. Bei diesen Traditionen geht es um Macht. Macht über andere ist das Ziel, in vielen dieser Beispiele explizit Macht über Frauen. Doch die Reaktionen auf das Borkumer Klaasohm-Fest lassen Hoffnung schöpfen. Die Gesellschaft reagierte sehr negativ auf eine solche Tradition und zeigte damit, dass Wandel möglich ist. Es lässt sich daher hoffen, dass Tradition als Entschuldigung für Gewalt in der Zukunft nichts mehr taugt.
Text Franziska Schwarz
Foto Norddeutscher Rundfunk (ndr.de)
Reportage des NDR über Klaassohm auf Youtube