Von Melanie Bösiger
Erstaunlich, wie in der Dunkelheit alles still wird. Kaum ein Mensch auf der Strasse, und wenn, dann geräuschlos. Sie sind weg, all die Stimmen, die doch nichts sagen. Selbst die Autos scheinen leiser zu sein, sie spritzen Wolken auf das Trottoir. Es nieselt nur, keine Regentropfen, die auf dem Asphalt aufschlagen. Nur ein feiner Hauch im Gesicht, kein Schnee. Ich gehe über einen Fussgängerstreifen und weiter, zum Bahnhof. Eine Menschenansammlung, alle mit sich selber beschäftigt, still. Keiner am Handy, keine laute Musik aus Kopfhörern, kein Kind schreit. Keine Grussworte, keine Abschiede, nichts. Ich schaue den Menschen zu. Minutenlang. Dann gehe ich durch sie hindurch und weiter. Richtung Unterstadt, durch die ausgestorbene Fussgängerzone. Ich laufe über die Pflastersteine, stolpere. Über meine eigenen Füsse und über meine Gedanken. Die überschlagen sich in meinem Kopf. Hundert wirre Anfänge, keiner mit einem Ende. Grauer Nebel, am Himmel, im Kopf. Ich wünsche mir, mit diesem Nebel zu verschmelzen, mich in tausend Tröpfchen aufzulösen. Jedes einzelne zu klein, auch nur einen Bruchteil eines Gedankens zu fassen. Die Gedanken verstreut, eine grosse Wolke und doch nicht mehr vorhanden. Und ich werde dann ruhig, gelassen, von einem Auto auf’s Trottoir gespritzt und weg.
Am Bahnhof steigst du aus dem Zug, und bleibst verloren stehen. Du sollst nach Hause, und weisst nicht, wo das ist. Daheim ist ein warmer Ort, oder kühl, vielleicht still, vielleicht laut. Vielleicht leer, vielleicht mit einem Menschen, der dich liebt. Oder vielen Menschen. Oder Tieren. Die dich lieben oder auch nicht. Du stehst eine Weile auf dem Perron. Dann gehst du los. In die Unterführung hinunter und dann links aus dem Bahnhof hinaus. Ich sehe dich durch meine Glaswand. Aber das wissen wir beide nicht. Du bleibst wieder stehen, windest die Gedanken, versuchst abzuwägen, wohin. Zu Hause wartet keiner, kein Mann, keine Frau, keine Kinder, keine Haustiere, nicht einmal ein Teddybär. Du weisst auch nicht, ob du das möchtest. Dass jemand oder etwas wartet. Auf dich. Ob du nach Hause willst. Oder einfach hier bleiben. Ich kreuze dich noch einmal, diesmal nicht nur mit dem Blick. Ich kann dich nicht mehr ausmachen als einer aus der Bahnhofsmasse. Du bist einer der Stillen, ich auch, sie alle, die andern. Wir bemerken einander nicht. Und doch reagierst du auf mich, entscheidest dich, mir zu folgen. Du weisst nicht, warum. Aber irgendetwas treibt dich die leere Fussgängerzone hinunter. Du gehst langsam, noch langsamer als ich. Hast mich längst aus den Augen verloren, in denen du mich nie hattest. So möchtest du stundenlang spazieren, ins Leere starren, in den Nieselregen. Bis du dich in ihm auflöst, nicht mehr da bist, keiner dich vermisst, weil die Sonne scheint. Du gehst weiter, folgst einem unbestimmten, verschwommenen Gedanken in deinem Kopf. Denkst sonst gar nichts und merkst nicht, wie quietschende Bremsen die Stille schneiden. Es bewegt sich nichts. Nichts mehr. Da, wo ich vorher ging, bleibt nur Stille. Noch stillere, als vorher.
Du biegst in eine Seitengasse, als ahntest du, welch unschönes Bild dich am Ende der Fussgängerzone erwartet. Immer weiter tragen dich deine Beine, du auf der Felswand, unter dir der Fluss. Bis dahin, wo die Pfeiler einer Brücke senkrecht ins Nichts ragen. Wo die grosse Brücke entstehen soll. Sie führt ins Leere, Anfang und Ende sind nicht verbunden. Die Absperrung nimmst du kaum wahr. Du gehst weiter, auf dem Betongerüst, Richtung Mitte. Keine Geländer links und rechts. Du gehst geradeaus, bis zum Abgrund und einen Schritt drüber hinaus. Du wärst mehr als einen Schritt gegangen, hättest du gekonnt. Aber der Abgrund lässt dich nicht. Auf der Brücke bleiben deine Gedanken, nichts. Was unten bleibt, wird man finden, bevor dich jemand vermisst.
Und ich? Du und ich, wir? Vielleicht begegnen wir uns an einem andern Ort. Irgendwo, wo es laut ist. Wo wir einander bemerken. Wo wir gemeinsam gehen, beide langsam, gleich langsam. Nach Hause, das wir haben. Wo keiner auf uns wartet, weil wir beide weg sind. Beide gemeinsam zurückkommen. Uns beide freuen, dass nichts uns erwartet. Kein Nebel, keine Watte, kein Licht, keine Gedanken. Nur Wärme.