von Melanie Bösiger

Der Grossvater hat das Kind geliebt. Stundelang sass er mit ihm unter dem Fliederbaum im Garten, erzählte ihm Geschichten und liess es Dinge tun, die die Grossmutter verbot. Aber der Grossvater ist jetzt in Tamangur. Er ist nicht mehr da. Genau wie der kleine Bruder des Kindes auch nicht mehr da ist. Und mit ihm sind die Eltern gegangen – lange vor dem Grossvater. Es bleibt die Grossmutter. Die das Kind in ihrem Bett schlafen und für das Kind aus Grossvaters alten Hemden Kleider schneidern lässt. Die Grossmutter sorgt für das Kind, sie hat ein grosses Herz. Und dennoch hasst das Kind sie manchmal. Aber das darf es, sagt die Grossmutter. Man darf Menschen manchmal hassen. Aber nur die, die einem wichtig sind. Bei den andern lohnt sich der Aufwand nicht.

Der Grossmutter sind eine Handvoll Menschen wichtig. Allen voran der Grossvater, den sie in der Erinnerung allerdings nur geliebt und nie gehasst hat. Und Elsa. Sie ist eine der Seltsamen, und sie weiss viel zu erzählen. Nicht wie die meisten Menschen, sagt die Grossmutter, bei denen man im Voraus schon weiss, was sie sagen werden. Das Kind hat ein bisschen Angst vor Elsa. Und auch vor dem gelben Hund, an dem es auf dem Schulweg vorbei muss. Und doch vermisst es ihn, nachdem er eines Tages überfahren am Strassenrand liegt. Die Angst war ein Teil vom Kind. Genauso wie von der Grossmutter, die nachts in Albträumen die Bettlaken zerwühlt. Das Kind liegt still daneben und schaut ihr zu.

Das Kind ist eigentlich ein Mädchen und wird trotzdem stets „das Kind“ genannt. Es wird nie deutlich beschrieben, entsteht für den Leser aus den lyrischen Sprachbildern. Genau wie vieles andere erst in der Interpretation Farbe bekommt – Leta Semadeni zeichnet nur kunstvolle Umrisse. Und doch weiss der Leser immer, wo er und das Kind gerade sind. Ihm bleibt die Möglichkeit, zwischen die Zeilen zu malen, wie er sich die Welt im Roman vorstellt. Und genau das ist es, was die Geschichte unheimlich berührend macht.

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Leta Semadeni: Tamangur

Rotpunktverlag 2015

144 S.