Spätestens seit seinem „Wut-Essay“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom vergangenen Oktober ist Lukas Bärfuss’ Position als gesellschaftskritischer Schriftsteller im kollektiven Bewusstsein verankert. Dass der Schweizer Autor trotz der Ernsthaftigkeit seiner Botschaften mit Humor und Leidenschaft überzeugt, konnte Spectrum bei seiner von der Fachschaft Germanistik organisierten Lesung an der Universität Freiburg entdecken.

Text: Lisa Bieri / Foto: Frederic Meyer

Kurz vor Schluss der Lesung schaut Lukas Bärfuss auf die Uhr schaut und sagt, dass er jetzt eigentlich noch „etwas Politisches“ hätte machen wollen. Die angekündigte Dreiviertelstunde ist bereits verstrichen, doch ein Blick in den Saal verrät eifrige Zustimmung, und so kommt sie dann doch noch, die Moral.
Ein Schritt zurück: Im Oktober 2015 erscheint in der FAZ ein Essay, der im Folgenden als „Wut-Essay“ bezeichnet wird und hohe Wellen schlägt. In seinem Text „Die Schweiz ist des Wahnsinns“ nimmt Bärfuss die politische, kulturelle und wirtschaftliche Lage in der Schweiz vor dem Hintergrund der Parlamentswahlen im Herbst auseinander. Die Mehrheit der Schweizer Medien tut Bärfuss als „Übermoralisten“ und seinen Essay als „sprachlich wie gedanklich schwachen Text“ (Neue Zürcher Zeitung) ab.

Der Max Frisch unserer Zeit?

Dass sich Schriftsteller zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen äussern, ist nichts Neues, und dass sie damit auf Kritik stossen, auch nicht. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, mit denen Bärfuss zuweilen verglichen wird, werden heute als Überväter der Schweizer Literatur verehrt, doch zu ihren Lebtagen waren ihre kritischen Äusserungen nicht nur gern gehört. Wer den Mund aufmacht und es wagt, Unerfreuliches auszusprechen, begibt sich auf dünnes Eis. Aber gehört es nicht gerade zu den Aufgaben eines Schriftstellers, den Finger auf die wunden Punkte einer Gesellschaft zu legen, auch wenn das weh tut?
Lukas Bärfuss zumindest sieht es als seine Pflicht an, sich einzumischen, anzuprangern und aufzurufen. Wer jetzt aber einen verbitterten Menschen erwartet, wird bei der öffentlichen Lesung mit dem Schriftsteller an der Universität Freiburg eines besseren belehrt.

Anregend und unterhaltsam

Der Vorlesungssaal in der Miséricorde ist voll und der Funke schnell zum Publikum übergesprungen, als sich herausstellt, dass die Lesung in Freiburg für Bärfuss sozusagen ein Heimspiel ist: In seiner Zeit als Buchhändler hat er in der Genossenschaftsbuchhandlung „Lindwurm“ in der Lausannegasse gearbeitet. Bärfuss beginnt den Abend mit einem Essay über das Theater. Es folgen drei Monologe aus seinen Stücken, in denen unter anderem ein missmutiger Tankwart, der sich mit einer Bilderbuchfamilie auf dem Sonntagsausflug konfrontiert sieht, und ein gar nicht so lebensmüder englischer Sterbehilfekandidat zu Wort kommen. Bärfuss zieht das Publikum mit seinen skurrilen und amüsanten Geschichten in seinen Bann. Die Stimmung ist gelöst und es wird herzhaft gelacht. Die Organisatoren werden die Lesung im Nachhinein als vollen Erfolg bezeichnen.

Von Stil und Moral

Bei der Einladung an Lukas Bärfuss habe man nicht in erster Linie an ihn als kritischen Intellektuellen gedacht, sagt Michael Wiederkehr vom Komitee der Fachschaft Germanistik. Dennoch ist das Publikum merklich gespannt, als man an dem Punkt der Lesung angelangt ist, an dem Bärfuss „etwas Politisches“ verspricht. Im titelgebenden Werk seines Essay-Sammelbandes „Stil und Moral“ fragt Bärfuss auf radikale Art nach dem Zweck der Kunst. Der Text steigert sich bis hin zur Feststellung, dass es bei dieser „verschissenen Weltlage“ eine „moralische Sauerei“ sei, eine Lesung zu besuchen, anstatt in der gleichen Zeit mitzuhelfen, die Welt zu verbessern. Bei erstem Hinhören besteht bei dem zynischen Text natürlich ein grosser Widerspruch darin, dass Bärfuss an diesem kalten Februarabend in einem geheizten Raum der Freiburger Universität sitzt und vorliest, anstatt irgendwo selber die Welt zu verbessern. Indem sie aber zum Denken anregt, hat die Kunst eben doch ihre Berechtigung.
Lukas Bärfuss hat etwas zu sagen, und er tut es auf eine Art, die zumindest bei diesem Freiburger Publikum ankommt: ohne Zeigefinger aber mit genauer Beobachtungsgabe, treffsicheren Formulierungen und einer grossen Portion Leidenschaft.

 

Lukas Bärfuss’ neuester Roman „Hagard“ ist ab dem 1. April im Buchhandel erhältlich. Er wird als Text angepriesen, in dem die „aufgeworfenen Fragen über unsere Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert“ eine „unabweisbare Schärfe“ gewinnen. Wie das konkret aussieht und ob es sich lohnt, Bärfuss’  neuestes Werk zu lesen, erfahrt ihr im nächsten Spectrum.