Non-binary-Mensch Lou spricht im Interview mit Spectrum über Gender, falschsexuelle Welten und Gesellschaftsutopien.

Spectrum: Lou, was ist deine persönliche Definition von „non-binary gender“?

Lou: „Non-binary“ ist ein Überbegriff. Für mich heisst es einfach: Ich identifiziere mich nicht hundertprozentig als Frau und auch nicht hundertprozentig als Mann. Viele Non-Binaries haben genauere Definitionen, die sagen dann, ich bin agender, ich habe gar kein Geschlecht, oder ich bin gender-queer, das heisst, ich bin irgendwo in der Mitte. Für mich selbst kann ich das nicht oder noch nicht machen.

Von manchen Seiten heisst es, die ganze Genderdiskussion sei einfach ein Trend, ähnlich wie der Veganismus.

Das glaube ich nicht. Man bringt sich in eine Situation, in der man viel erklären muss und in der vieles mühsam ist, darum glaube ich nicht, dass man das einfach machen würde, weil es cool ist. Aber selbst wenn das so wäre, wäre es ja nichts Schlimmes. Wie beim Veganismus – wenn viele Leute vegan essen, weil sie es cool finden, ist das ja trotzdem gut für die Umwelt. Und wenn viele Leute finden, sie sind jetzt non-binary, weil das cool ist, dann gibt das diesen Leuten neue Möglichkeiten, wie sie sich ausdrücken können, und das ist auch gut.

Warst du schon non-binary, bevor du den Begriff kanntest?

Als ich in die Pubertät kam, hatte ich sehr lange grosse Mühe damit, wie sich mein Körper veränderte, wie ich angeschaut und angesprochen wurde und wie ich mich hätte anziehen sollen – nur konnte ich das eben nicht einordnen. Ich war einfach lange sehr unglücklich. Und nachher kam ich mit dem Begriff in Kontakt und wusste, doch, ja, das stimmt so.

Dann war es für dich eine Erleichterung, dich endlich irgendwo einordnen und zugehörig fühlen zu können?

Am Anfang war ich vor allem überfordert und hatte Angst, weil ich ja noch nicht wusste, ob es auch andere gibt, die so sind, was das genau heisst und wie ich damit umgehen soll. Ich wusste nicht, wie ich es den Leuten am besten sagen kann und wie sie es aufnehmen würden. Aber ja, es war auch eine Erleichterung zu wissen, dass nicht grundsätzlich etwas falsch ist mit mir und ich nicht mein Leben lang leiden muss (lacht).

Wie gross ist das Unverständnis der Leute und wie gehst du damit um?

Ich glaube, ich bin in einer privilegierten Situation, weil ich in Zürich, in einem liberalen Umfeld, im Bildungsbürgertum aufgewachsen bin. Ausserdem bin ich schon seit einiger Zeit in der Queer-Szene drin, weil ich in Beziehungen mit Frauen war. In meinem Umkreis ist es also kein Problem, darüber zu sprechen. Meinen Eltern und den Leuten aus ihrer Generation musste ich es erklären, aber sie haben es alle gut aufgenommen. Es gibt Leute, die würden das nicht verstehen, zum Beispiel aus der Generation meiner Grossmutter. Das weiss ich und wäge deshalb immer ab: Spreche ich es an, also will ich, dass die Leute sich damit auseinandersetzen, oder lasse ich es sein und lebe halt damit.

Aber gibt es Alltagssituationen, in denen du an Grenzen stösst mit deiner Sexualität?

Man unterscheidet zwischen Sexualität und Geschlechtsidentität. Mit beidem gibt es Schwierigkeiten. Auch wenn ich sagen würde, wir sind einfach queer, da ich ja keine Frau bin, werden meine Freundin und ich in der Öffentlichkeit als lesbisches Pärchen gelesen und schon immer wieder mal angepöbelt. Und punkto Geschlechtsidentität stört mich vor allem die Anrede – unsere Dozenten sagen immer wieder „Liebe Ladys!“ oder schreiben das in ihren Mails. Dann stellt sich immer die Frage, entweder erklärst du es oder du lebst damit, dass sie dich auf eine Art ansprechen, die dir unangenehm ist. Oder jedes Mal, wenn du irgendwelche Formulare ausfüllst, musst du ein „m“ oder „f“ ankreuzen. Auch das ist für mich mit Unbehagen verbunden und macht mich immer ein bisschen wütend. Und im Deutschen gibt es keine geschlechtsneutralen Pronomen. Ich habe es so geregelt, dass gewisse Leute „er“ und gewisse Leute „sie“ zu mir sagen, daher kann man mir gar keine falschen Pronomen sagen. Im Englischen benutze ich das „they“ als Pronomen. Wenn ich in den USA bei meiner Freundin bin, gibt es immer wieder Leute, die das vergessen. Wenn ich ihnen dann wieder sage, wie ich angesprochen werden möchte, entschuldigen sie sich schon, aber machen dann trotzdem weiter so. Da fühle ich mich überhaupt nicht ernstgenommen. Diese Art von Ignoranz tut schon weh.

Dein Name funktioniert für beide Geschlechter. Wie machen das andere Non-Binaries, wählen sie einen geschlechtsneutralen Namen?

Das ist unterschiedlich. Ich kenne einige Leute, die ihren Namen geändert haben, weil sie sich dann wohler fühlen. Und dann gibt es andere Leute, die sagen, ja gut, ich heisse zwar Paula, aber ich bin ein Non-binary-Mensch, dann ist Paula auch ein geschlechtsneutraler Name. Das kann man auch bei der Kleidung so machen: Manche Non-binaries tragen Unisex-Kleidung, andere tragen eine Mischung aus Kleidung aus der Frauen- und Männerabteilung. Und dann gibt es wieder andere Menschen, und ich mache das auch manchmal so, die sagen, gut, heute ziehe ich ein Kleid an, aber das ändert nichts an meiner Geschlechtsidentität. Und warum sollte ein Kleid unbedingt weiblich sein? Das macht ja keinen Sinn: Das Kleid trage ich an meinem Körper, und wenn mein Körper ein Non-binary-Körper ist, dann ist das auch ein Non-binary-Kleid.

Du engagierst dich in der Milchjugend. Welche Rolle spielt der Verein in deinem Leben?

Eine grosse, nach wie vor. Noch eine grössere, seit ich in die Szene reingekommen bin und angefangen habe, mich selbst zu finden. Auch in der Queer-Szene gibt es Leute, die in klaren Schubladen denken. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, als ich das erste Mal auf Schwulen-Lesben-Partys war. Da ist es dann sehr klar, du bist entweder ein Mann oder eine Frau. Und du bist dann halt schwul oder lesbisch, aber alles andere, etwa bisexuell zu sein oder irgendwie aus der Gender-Norm zu fallen, ist dann trotzdem nicht okay. Ich fühlte mich auch dort nicht wohl. Das war schlimm für mich, denn wo sollte ich denn dann noch hingehören? Die Milchjugend ist ein sehr offener Ort für verschiedene Geschlechter, Sexualitäten und Lebensformen. Es war wichtig für mich zu sehen, dass es Menschen gibt, die das leben und dabei glücklich sind. In eine Umgebung zu kommen, wo das auch zelebriert wird, wo man sagt, doch, schau, es ist doch cool, dass wir alle so verschieden sind, dass das auch etwas Positives sein kann, das war wichtig für mich. Viele meiner besten Freunde kenne ich aus der Milchjugend. Ich helfe auch sehr gern beim Mitorganisieren. Ich bin jetzt an dem Punkt angelangt, an dem ich auch zurückgeben möchte. Mir hat die Milchjugend extrem geholfen und ich denke, sie kann auch anderen jungen Leuten helfen, und da möchte ich, dass es weitergeht und dass ich aktiv bleibe.

Warum „falschsexuelle“ Welten? Wäre es nicht gerade das Ziel eurer Aufklärungsarbeit, dass ihr euch eben nicht mehr als „falschsexuell“ bezeichnen müsstet?

Diese Irritation gibt es bei vielen Leuten. Die Bezeichnung spielt ein bisschen damit und hat eine gewisse Ironie. Es geht um politische Selbstermächtigung, darum, sich das Wort zurückzuerobern. Es ist quasi die Übersetzung vom Wort „queer“. Das war auch eine Beleidigung, aber irgendwann fanden die Queer-Leute dann, ja okay, dann sind wir halt queer, dann sind wir halt falschsexuell, aber uns geht es gut dabei, dann nehmen wir das Wort und machen etwas Gutes draus.

Menschen benutzen Kategorien, um andere Menschen und deren Verhalten einordnen zu können. Welche Auswirkung hätte es, wenn die Kategorie Geschlecht beziehungsweise die strikte Geschlechterbinarität wegfiele? Die heteronormative Einteilung der Gesellschaft in Mann und Frau ist doch etwas Fundamentales.

Ich vertrete überhaupt nicht die Ansicht, niemand dürfe mehr ein Geschlecht haben oder sich nicht mehr über sein Geschlecht identifizieren. Ich glaube, es gäbe einem einfach mehr Freiheit zu sagen, wer man ist. Momentan werden diese Schubladen von vielen einfach als biologisch prädestiniert gesehen. Und es ist ein riesiger Aufwand zu sagen, nein, ich gehöre nicht in diese Schublade, in die du mich meinst stecken zu müssen. Manche Leute finden, es wäre doch mühsam, wenn man alle immer erst fragen müsste. Aber ich meine, du fragst Leute, die du neu kennenlernst, ja auch, wie sie heissen. Warum fragt man also nicht einfach, hey, wie heisst du und was sind deine Pronomen? Es wird wohl immer irgendwelche Schubladen geben, aber meiner Meinung nach muss man selber wählen können dürfen, wo man hingehört und wie man gesehen werden will. Das Problem ist nicht das Geschlecht an sich, sondern dass die Gesellschaft dafür nur zwei Möglichkeiten vorschreibt. Dieses System würde zusammenbrechen, davor haben viele Menschen Angst. Denn wenn man sich das Ganze nicht mehr so einfach machen würde, wäre es auch plötzlich nicht mehr so leicht, Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen damit zu begründen, dass Frauen halt Kinder kriegen.

Wie siehst du das im öffentlichen Raum, findest du zum Beispiel geschlechtsneutrale WCs eine sinnvolle Massnahme?

Ja, sehr. Für Menschen wie mich, die sich nicht entscheiden können und wollen. Für mich ist es Fluch und Segen, dass ich in der Öffentlichkeit als Frau gelesen werde. Das ist zwar einerseits unangenehm, weil ich keine Frau bin und nicht als solche wahrgenommen werden will. Aber andererseits weiss ich, dass ich auf einem öffentlichen Frauen-WC nicht dumm angemacht oder zusammengeschlagen werde. Für mich ist es zwar mühsam, aber nicht gefährlich. Aber bei manchen Non-binary-Menschen oder Transmenschen ist es viel sichtbarer, und sie würden weder auf dem Frauen- noch auf dem Männer-WC akzeptiert werden. Sie können in der Öffentlichkeit nicht aufs WC, ohne sich Beschimpfungen oder sogar Gefahren auszusetzen. Stellen wir uns mal vor, du hast einen Bart, lange Haare und trägst einen Rock und gehst so aufs Männer-WC. Wenn du Pech hast, ist das gefährlich, weil das einfach schon zu viel Weiblichkeit ist und von manchen Männern als Angriff auf die eigene Maskulinität verstanden wird. Und wenn du auf ein Frauen-WC gehst, riskierst du, dass du angepöbelt wirst, dass jemand wütend wird, Angst bekommt oder du sogar rausgeschmissen wirst, weil du als Mann gesehen wirst und dir böse Absichten unterstellt werden. Darum finde ich die Einführung von geschlechtsneutralen WCs einen wichtigen Schritt.

Was müsste sich deiner Meinung nach ändern, was ist deine Idealvorstellung von der Gesellschaft?

Menschen sollten nicht mehr in eine gesellschaftliche Rolle gezwungen werden, in der sie sich nicht wohlfühlen. Und diese Rollen sollten auch nicht bestimmen, wie sie in dieser Welt behandelt werden, sei das aufgrund ihres Geschlechts oder aufgrund ihrer Hautfarbe. Wir kreieren ganz viele solcher Kategorien und benutzen sie als Unterdrückungslegitimation. In meiner absoluten Utopie dürften Menschen einfach so sein, wie sie sein wollen, und sich als das identifizieren, als das sie sich identifizieren wollen, ohne dafür diskriminiert zu werden. Mein Wunsch ist, dass das Geschlecht nicht mehr als so wichtig erachtet würde, dass man es sich selbst aussuchen kann und dass es nur als ein Teil von einem vielfältigen Menschen gesehen wird.

Durch welche konkreten Schritte könnte man diesem Ziel näherkommen?

Eine wünschenswerte Massnahme wäre, dass man im Pass ein „x“ machen könnte statt nur ein „m“ oder „f“. Noch besser fände ich es, wenn man das Geschlecht ganz aus dem Pass herausstreichen würde, denn die einzigen, die das eigentlich etwas angeht, sind deine Ärzte und deine Partner. Und heute braucht man jenste psychiatrische Gutachten vor einer Geschlechtsanpassung. Ich wünsche mir mehr Selbstbestimmungsrechte, dass man sagt, gut, wir vertrauen den einzelnen Menschen zu wissen, was ihr Geschlecht ist, das muss kein Arzt bestätigen. Was aber als erstes ansteht, ist ein besserer Schutz für Transmenschen, dass gegen Diskriminierung vorgegangen wird und dass man sein Geschlecht im Ausweis anpassen lassen kann, den Namen ändern und so weiter, ohne dass diese Identität als pathologisch gilt.

Lou wurde 1996 in Zürich geboren und studiert derzeit am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.

Die Milchjugend ist eine Jugendorganisation für „lesbische, schwule, bi, trans* und asexuelle Jugendliche und für alle dazwischen und ausserhalb“ mit dem selbsterklärten Ziel, „die emanzipatorische Selbstfindung zu unterstützen, gesellschaftliches Engagement zu ermöglichen und die Selbstbehauptung zu stärken“. Online: milchjugend.ch

(c) Roman Blum